Der Tatzelwurm

Gibt es den Tatzelwurm, den Verwandten von Nessie und Yeti? Ein etwas anderes Tierbuch.

«Während aber die Drachen in der jetzigen Schweiz als ausgestorben oder vertilgt betrachtet werden, ist das Oberland noch voll von Sagen und Zeugnissen über ein schlangenartiges Unthier, welches mit dem einheimischen Namen des Stollenwurms bezeichnet, und nach unverdächtigen Zeugnissen vieler Landleute fast jährlich hier oder dort gesehen wird. Man beschreibt dieses Wesen als eine Art von Schlange, die ganz kurze Füßchen habe; und da die Schlangen überhaupt Würmer heißen, ein kurzer dicker Fuß aber ein Stollen genannt wird, so entstand der besondere Name für dieses Geschöpf. Fast durchgängig giebt man ihm einen runden Katzenkopf, und bald 2, bald 4, bald mehrere Füße, nach der Art, wie die Raupen sie haben. Mitunter schildert man es als behaart, und gewöhnlich als verhältnißmäßig dick aber kurz. Ich wage jedoch keineswegs die Eigenthümlichkeit dieses Geschöpfes als erwiesen anzunehmen.»

Aber kroch dieser Stollenwurm nicht doch durchs Berner Oberland? Entgegen der Ansicht des Berner Dichters und Philosophen Johann Rudolf Wyss, der sich da im zweiten Band seiner „Reise in das Berner Oberland“ von 1817 ziemlich skeptisch zu diesem fabelhaften Alpentier äusserte. Die „Berliner Illustrirte Zeitung“ brachte am 17. April 1935 nämlich folgende Story: „Der Tatzelwurm – das geheimnisvolle Fabeltier der Alpenwelt zum ersten Mal fotografiert?“ Immerhin ein Fragezeichen, denn auf dem Foto sieht das angeblich bei Meiringen aufgespürte Tier so lebendig aus wie ein am Boden liegender Baumstamm, dem man zwei Augen und ein breites Gebiss angemalt hat. Die Zeitung setzte gar eine Belohnung von 1000 Reichsmark aus für diesen Tatzelwurm. Dummerweise lag am angeblichen Fundort zu viel Schnee, so dass keine Spur gefunden wurde. Aber so war es immer mit dem Tatzel- oder Stollenwurm: Sobald man nachforschte, verschwand er. Auch Kadaver oder Knochen waren plötzlich unauffindbar, als sie wissenschaftlich untersucht werden sollten.

Im Buch „Der Tatzelwurm. Porträt eines Alpenphantoms“ hat Ulrich Magin über 430 Augenzeugenberichte gesammelt und analysiert. Das Ergebnis ist eine aufregende zoologische Schnitzeljagd und zugleich eine spannende Traditionsgeschichte des gesamten Alpenraums. Bei der Lektüre der Berichte wird klar, dass der Tatzelwurm ein wandelbares Geschöpf ist. Er kann scheu oder aggressiv und giftig sein; manche empfehlen sogar seinen Verzehr – pfui Teufel. Sicher ist: Im Verlauf der Zeit ist er immer kleiner geworden. „Der Tatzelwurm ist“, so Magin, „ein Mischwesen wie der Zentaur, die Seejungfrau oder die Ungeheuer mit Menschenkörper und Vogelschwingen der griechischen Sage – ein Kriechtier mit Katzenkopf, das nicht einmal der wagemutigste Gentechniker in der Retorte zusammenpanschen könnte.“

Allerdings gibt es Vorbilder für den Tatzelwurm. Zum Beispiel die Gila-Krustenechse oder die europäische Stutzechse, beide bösartig aussehende Reptilien. Da sieht der Scheltopusik direkt lieblich aus; auch er könnte für den Tatzelwurm gehalten worden sein. Nur kommen diese Viecher nicht in den Alpen vor. Wohl aber Fischotter und Marder, natürlich Murmeltier und Kreuzotter: Alle sind mit dem Fabelwesen verwechselt worden. „Der Tatzelwurm ist keine Tierart, sondern ein Sammelbegriff“, heisst es im Schlusskapitel des fein illustrierten sowie mit Anmerkungen und Literatur ausgestatteten Buches. „Weil an den Tatzelwurm geglaubt wird, weil man weiß, wie er aussieht und wie er sich verhält, kann alles zum Tatzelwurm werden.“

Ulrich Magin: Der Tatzelwurm. Porträt eines Alpenphantoms. Edition Raetia, Bozen 2020, € 18.00.

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