Der Wanderfotograf

Im Zusammenspiel mit ausgesuchten Familienfotos erhellt Mario Casellas biografischer Roman „Der Wanderfotograf“ nicht nur die bewegende Lebensgeschichte Roberto Donettas, sondern veranschaulicht auch die Anfänge der Fotografie in einem hoffnungslos armen Tessiner Tal.

«Das ist nicht gut … Ihr dürft Euch nicht zu mir drehen. Ich bin nicht da. Stellt Euch vor, Ihr wärt allein auf dem Gipfel. Jeder muss in eine andere Richtung schauen.»
Als ich diese Worte sagte, ist es mir vorgekommen, als hätte der Vater sie gesprochen.
Nachdem alles bereit war, habe ich das Foto geschossen, und als ich von der Kamera aufblickte, habe ich mir ausgemalt, was Vater beim Entwickeln sagen würde: «Sehr schön! Weißt du, was mir daran am besten gefällt? Der Hintergrund mit den weißen, aus dem Tal aufsteigenden Wolken. Eine Kulisse von außergewöhnlicher Lichtintensität. Diese Haufenwolken bringen die Bergsteiger besonders zur Geltung und lassen die Szene noch dramatischer wirken, als sie ist … Was für ein Schauspiel!»

Ausschnitt aus dem letzten der dreizehn Kapitel, in denen Saulle, der jüngste Sohn des Tessiner Samenhändlers und Fotografen Roberto Donetta (1865–1932), auf das Leben seines Vaters blickt, vor allem auf seine Arbeit als Fotograf. Und an dieser war Saulle immer wieder beteiligt, zuerst nur als Motiv, aber schon bald auch als Helfer für die beste Inszenierung, und zuletzt gar als Fotograf, weil der Vater den Aufstieg über den Gipfelgrat auf die Adula (3402 m), den höchsten Gipfel des Tessins, nicht mehr schaffte: „Saulle, ich kann nicht mehr. Mein Herz rast, und ich bekomme kaum Luft hier oben. Geh du mit ihnen weiter. Nimm nur das Allernötigste mit. Worauf es ankommt, ist das Gipfelfoto!“ Auf Seite 194 im druckfrischen Buch „Der Wanderfotograf“ sehen wir das schwarzweisse Foto, drei Bergsteiger und rechts der markante Gipfelsteinmann. Der Tessiner Autor, Bergführer, Fotograf und Filmer Mario Casella verfasste den biografischen Roman über Donetta. Er ist sehr schön, ja ein Schauspiel!

Mario Casella erzählt in seinem ersten Roman die bewegende Geschichte Roberto Danettas, der seine Familie, die Menschen und die Landschaft des Valle di Blenio hundertfach in Szene setzte. Eine tragische Figur, dieser Robertón. Ein neugieriger Mensch, der die neue Welt entdecken wollte, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftat. Und die Fotografie war ein Weg, um diese Welt zu erzählen. Aber die Hindernisse am Weg waren hoch, die Familie mit sechs Kindern musste ernährt werden, die Arbeit als fliegender Samenhändler brachte nicht viel ein, diejenige als Fotograf auch nicht, die Ausrüstung war teuer, die Glasplatten ebenso. Ein Künstler, verloren in einem mausarmen Bergtal. Am 6. September 1932 fand man ihn tot in der Casa Rotonda in Casserio bei Corzoneso im mittleren Bleniotal. Die Behörden pfändeten die wenigen von ihm zurückgelassen Sachen, um die Schulden zu begleichen und die Beerdigung zu zahlen. Über fünftausend Fotoplatten, die Notizbücher und der Briefwechsel verblieben in einigen Kisten und Kartons in der Gemeinde Corzoneso. Mitte der 1980er Jahre entdeckte man den Schatz, insbesondere die Fotos. Mario Casella vertiefte sich jedoch noch in die Tagebücher und Briefe. Und hat daraus ein überzeugendes Buch gemacht.

Zwei sich abwechselnde Erzählstränge beleuchten Leben und Werk von Donetta. Der eine Strang schildert in 15 Kapiteln, oft mit Zitaten aus Tagebüchern und Briefen, die Bemühungen, die Ideen, die Versuche, die Freuden und das Versagen eines Mannes, mit sich und seinem Umfeld ins Reine zu kommen. Besonders faszinierend dabei, wie der Biograf ihm über die Schulter schaut, wenn er seine Gedanken ins Notizbuch schreibt: „Man muss Worte finden und sie auf Papier bannen“ lesen wir auf der ersten Seite. Mario Casella fand sie. Er fand sie ebenfalls in den Saulle-Kapiteln, die jeweils mit einem Foto eingeleitet werden, dazu sich dann feine Erläuterungen finden. Man liest, blättert zurück, schaut sich das Foto an, liest weiter. Wandert sozusagen durch das Buch, auf gut geschnürten Schuhen, geführt von einem Bergführer, der den Stift so gekonnt handhabt wie den Pickel.

„Senza Scarpe“: So lautet der originale Titel – ohne Schuhe. Doch gute Schuhe hätte der Fotograf brauchen können, der mit Samenkiste, Kamera und Stativ sein Tal immer wieder durchwanderte. Gute Schuhe brauchte Saulle, als er Holzfäller wurde und das Tal und seinen Vater schliesslich verliess. Für die Besteigung der Adula hatte er ein Paar gebrauchte Schuhe erhalten: „Auf der Bank neben dem Vater, den Rücken an die Hüttenwand gelehnt, habe ich die Augen über das Tal schweifen lassen. Dann ist mein Blick auf die vom Schnee feuchten und den vorangegangen Touren unseres Kunden abgenutzten Schuhe gefallen. Fest und stabil sahen sie aus, bereit, meine Füße in ein neues Kapitel meines Lebens zu tragen.“

Mario Casella: Der Wanderfotograf. Biografischer Roman. Mit Fotos von Roberto Donetta. Vorwort von Guido Magnaguagno. Atlantis Literatur Verlag, Zürich 2023. Fr. 35.-

Fondazione Archivio fotografico Roberto Donetta, Casa Rotonda, a Cassì 27, 6722 Corzoneso, https://archiviodonetta.ch

Buchvernissage «Der Wanderfotograf»: Alpines Museum der Schweiz in Bern, Mittwoch, 30. August 2023, 19 Uhr. Mit Mario Casella und Guido Magnaguagno, Moderation Daniel Anker. Eintritt Fr. 15.-/10.-. Anmeldung: libromania@libromania.ch

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