Talgeschichten aus hohen Bergen

Drei unterschiedliche Talgeschichten aus hohen Alpentälern der Schweiz: Avers, Ursern, Arosa.

«Um ein Haar wäre das Hochtal unter Beton verschwunden. Dutzende von Baggern hätten den Boden umgepflügt, Kran neben Kran am Himmel gekratzt, Betonmischer das Pfeifen der Murmeltiere übertönt, unzählige Lastwagen Steine und Holz ins Tal gekarrt – um im Obertal ein Megaresort zu bauen. Eine gigantische Retortenstadt, wie sie damals zu Dutzenden in den französischen Alpen buchstäblichen aus dem Boden schossen. Mit seinen zwanzig Anlagen und 10000 Gästebetten hätte das Feriendorf im Kanton Graubünden jeden Rahmen gesprengt.»

So kraftvoll leitet die Publizistin und Kulturwissenschaftlerin Ina Boesch das Kapitel „Aus dem Nichts der Bergeinsamkeit. Wie ein Genfer Unternehmen das Avers zubauen wollte (20. Jh.)“ in ihrem Buch „Schauplatz Avers. Geschichten einer Landschaft“ ein. Geblieben von diesem grössenwahnsinnigen Plan aus den 1960er Jahren, eine der vielfältigsten und schneesichersten Skitourenregionen Graubündens dem Pistenskilauf zu opfern, sind zwei kleine Skilifte. Ein paar Jahre später kam die nächste Gefahr für das Avers, genauer für sein unendlich langes, unendlich schönes Seitental Val Madris: Die Kraftwerke Hinterrhein AG wollten dort ein Pumpspeicherwerk bauen. 1998 wurde das Projekt begraben, vor allem dank des so hartnäckigen wie witzigen Widerstandes der Hirten, Avnerinnen und Umweltschützer. Zwei Kapitel aus einem sehr lesenswerten, fein illustrierten Buch über ein sehr besuchenswertes Tal, sommers wie winters.

«Es war eine wundervolle Nacht, der Mond warf sein silbernes, sanftes Licht über die flimmernde Ebene und die glänzenden Berge, davon grossartige Massen prächtiger dunkler Schlagschatten über das schneebedeckte Tal sich hin strekten.»

Notierte der Basler Textilkaufmann Albert Emanuel Hoffmann-Burckhardt (1826–1896) im zweiten Band seines insgesamt 14 Bände umfassenden Tagebuches über die abendliche Ankunft in Andermatt im Spätherbst 1874. Er befand sich auf dem Weg über den Gotthard nach Mailand. Er kannte aber nicht nur diesen Arbeitsweg, sondern auch die Berge hinten im Urserntal sowie im Nachbartal von Göschenen: Der Mitbegründer des Schweizer Alpen-Clubs bestieg als erster sowohl Schnee- als auch Dammastock. Tagebuchnotiz und Angaben zur beruflichen Tätigkeit von Hoffmann-Burckhardt finden sich im Kapitel „Ein Basler Geschäftsmann auf Reisen“ im Essayband Talgeschichte Ursern im 19. und 20. Jahrhundert“ des Baslers Geschichtsprofessors Martin Schaffner. Spannende Aspekte beleuchtet er, insbesondere zur Agrargeschichte. Aussen vor bleiben erstaunlicherweise Militär (Gotthardfestung), Energie (die Überflutungspläne von Ursern) und Tourismus (Skigebiete Nätschen, Gemsstock und Winterberg). Und die Bildstrecke des Basler Fotografen Serge Hasenböhler könnte auch von x-einem anderen Hochtal stammen.

«Im ersten Winter in Arosa macht Otto seine ersten Versuche als Skifahrer. Die Skier kommen aus Norwegen und sollen zehn Kronen gekostet haben. Der Berliner Freund, der sie organisiert hat, schreibt dazu: „Die Dinger sind höllisch lang und schmal, einfach aber gut verarbeitet und für die Grösse ausserordentlich leicht.“ Als sie schliesslich vor der Pension Brunold stehen, lösen sie bei den Einheimischen Kopfschütteln aus, wie Else Schütz-Herwig, eine der Töchter von Otto Herwig, in ihren Erinnerungen schreibt. Die Aroser fragen sich, was der Doktor mit den „kuriosen Latten“ wohl anfangen will. Otto erklärt ihnen, es seien norwegische Schneeschuhe, mit denen man über Schnee fahren könne. Wie, das wusste er allerdings selbst nicht.»

Aber der deutsche Arzt Otto Herwig (1852–1926) lernte schon im Winter 1883/84 Ski laufen und übte diesen Sport bis ins Alter aus. Er war nicht der erste Skifahrer in Arosa, aber er verwandelte das Bauerndorf zuoberst im Tal des Schanfigg in einen boomenden Kurort. Sein Sanatorium Berghilf, wo sich Lungenkranke Heilung erhofften, machte den Anfang. Nachzulesen und mitzuerleben im Buch „Herwigs in Arosa. Die Erfindung eines Kurortes“ von Thomas Gull. Er beschreibt ganz nah, wie die Familie Herwig über drei Generationen hinweg Arosa prägen, wie sie unermüdlich arbeiten, von der Sonnenlage profitieren und von behördlichen Schatten weniger. Viele schwarz-weisse Fotos bereichern diese ganz besondere Talgeschichte. Gut gefällt mir die doppelseitige Nr. 44: „Am Schlepplift bergwärts: Arosa eröffnet 1938 die ersten drei Skilifte, einer davon ist der Carmenna.“

Ina Boesch: Schauplatz Avers. Geschichten einer Landschaft. Hier und Jetzt, Zürich 2023. Fr. 36.-

Martin Schaffner: Talgeschichte Ursern im 19. und 20. Jahrhundert. Hier und Jetzt, Zürich 2023. Fr. 34.-

Thomas Gull: Herwigs in Arosa. Die Erfindung eines Kurorts. Hier und Jetzt, Zürich 2023. Fr. 36.-

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