Die Erfindung der alpinen Architektur

Jean-Jacques Rousseau als PR-Texter für die heile Schweizer Alpenwelt inklusive Chalets, Käse und muntere, verschwiegene Sennerinnen. Schweiz Tourismus bedankt sich postum beim vor 300 Jahren geborenen Erfolgsautor. Und wir bedanken uns beim noch lebenden Erfolgsautor und Rezensenten, der sich wieder mal als profunder Kenner von Geschichte, Literatur, alpiner Kultur und nun auch noch Architektur erweist.

„Près des côteaux fleuris d‘où part la source de la Vevaise, il est un hameau solitaire qui sert quelquefois de repaire aux chasseurs & ne devroit servir que d’azile aux amans. Autour de l’habitation principale, dont M. d’Orbe dispose, font épars assez loin quelque Chalets, (k) qui de leurs toits de chaume peuvent couvrir l’amour & le plaisir, amis da la simplicité rustique. Les fraîches & discrettes laitieres savent garder pour autrui le secret dont elles ont besoin pour elles-mêmes.
(k) Sorte de maisons de bois où se font les fromages & diverses especes de laitages dans la montagne.“

Ausschnitt aus dem Buch eines Autors, dessen 300. Geburtstag heute gefeiert wird: Jean-Jacques Rousseau, geboren am 28. Juni 1712 in Genf, gestorben am 2. Juli 1778 in Ermenonville bei Paris. Das Buch erschien erstmals 1761 unter dem Titel „Lettres de deux amans habitans d’une petite ville au pied des Alpes“, schon bald besser bekannt als „Julie ou la Nouvelle Héloïse“. Der Briefroman war einer der grössten belletristischen Bucherfolge des 18. Jahrhunderts mit über 70 Auflagen und Übersetzungen in zahlreiche Sprachen. Mehr noch als Albrecht von Hallers Gedicht „Die Alpen“ von 1732 löste „Julie oder Die neue Héloïse“ die Begeisterung für die Alpen und vor allem den Tourismus dorthin aus. Erfolgreichere Fremdenverkehrswerbung hat es seither kaum gegeben.

Und nicht nur für die Alpen und den an ihrem Fuss sich ausbreitenden Lac Léman hat Rousseau kräftig Werbung gemacht, sondern auch für das Chalet, wie hier im 36. Brief des ersten Teils des Romans. Reklame für „eine Art Holzhäuser, in denen man auf dem Gebirge Käse und andere Arten von Milcherzeugnissen macht“, wie die Erklärung in der deutschen Ausgabe des Romans lautet. Aber eben nicht nur Käse: Die Sennhütten, so die deutsche Übersetzung von chalets, können „der Liebe und dem Vergnügen, den Freunden des schlichten Landlebens, Schutz bieten“. Mon Dieu, wenn das kein Versprechen ist! Raus aus der Stadt, rauf in die Berge, rein in ein Chalet, wo eine Julie oder „die munteren, verschwiegenen Sennerinnen“ auf einsame, sehnsüchtige Touristen warten.

Rousseau ist nicht der erste, der vom Chalet geschrieben hat. Wie im Aufsatz „Verkaufsschlager Schweizer Chalet, 18.-20. Jahrhundert“ von Edwin Huwyler nachzulesen ist, wird der Begriff „Chalet“ im Kanton Waadt 1328 erstmals quellenkundig und findet im allgemeinen französischen Sprachgebrauch 1723 eine erste Erwähnung. Aber diese muss noch wenig verbreitet gewesen sein, sonst hätte Rousseau das Chalet nicht erklären müssen. Für die zweite Auflage seines Erfolgsromans baute er die Erklärung gar aus: „Je ne puis m’empêcher d’avertir ici les lecteurs françois que la première syllabe de chalet n’est point longue, comme celle de châlit, mais brève, comme celle de chaland. Je ne sais pourquoi cette petite faute de quantité fait à mon oreille un effet insupportable.“ Ehrlich gesagt finde ich die falsche Betonung nicht so schlimm, wenigstens nicht, wenn man an die beiden Beispielwörter von Rousseau denkt: chaland heisst Lastkahn, châlit hingegen Bettstelle. Und diese passt doch gut zum Chalet…

Das Chalet! Nicht ohne Grund braucht es Oliver Scharpf als Titel für sein Buch über Schweizer Mythen wie Emmentaler und Ovomaltine, Sackmesser und Bahnhofsuhr, Heidi und Ursi Andress. „Lo chalet e altri miti svizzeri“ nimmt sich 28 berühmten helvetischen Gebilden an – ein spannendes Buch, aber leider ohne Abbildungen. Deshalb bleiben wir noch ein wenig im Chalet. Gleich zwei Aufsätze widmen sich diesem Exportschlager im Band „Die Erfindung der alpinen Architektur“, den die Internationale Gesellschaft für historische Alpenforschung herausgegeben hat. „Das ‚Schweizer Chalet‘, ein von in- und ausländischen Architekten auf dem Reissbrett konstruierter Bautyp, entwickelte sich aus dem Gedankengut der Romantik. Zusammengestückelt aus verschiedenen Konstruktionselementen der traditionellen Blockbauarchitektur des Berner Oberlandes und des angrenzenden Waadtlandes entstand eine neue, in ganz Mittel- und Nordeuropa beliebte Bauform: eben das Schweizer Chalet“, schreibt Edwin Huwyiler. Und wie beliebt! Nur zwei Beispiele: Der französische Schauspieler Charles-Albert Fechter beglückte den englischen Romancier Charles Dickens mit einem „Swiss Chalet“, das von Paris aus in Einzelteile zerlegt nach England geschickt und auf seinem Landsitz aufgebaut wurde. Und in Cimiez oberhalb von Nizza gab es um 1900 das „Chalet de la Ferme Suisse“, wo „Lait trait sur place“ serviert wurde, aber auch „Five o’clock-tea“. Was unser Geburtstagskind Rousseau wohl lieber getrunken hätte?

Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Heloise. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, 1761. Eine gute Ausgabe dieses mindestens 800seitigen Bestsellers zu finden, ist gar nicht so einfach. Am ehesten unter www.zvab.com . Und: Auf Wikipedia gute Zusammenfassung, Literatur und Links.

Reto Furter, Anne-Lise Head-König, Luigi Lorenzetti, Jon Mathieu: L’invention de l’architecture alpine – Die Erfindung der alpinen Architektur. Herausgegeben von der Internationalen Gesellschaft für historische Alpenforschung, Chronos-Verlag, Zürich 2011, Fr. 38.-

Oliver Scharpf: Lo chalet e altri miti svizzeri, Gabriele Capelli Editore, Mendrisio 2010, Fr. 22.-

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