Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators

Bergliteratur vom Feinsten: die Dolomiten in Worten und Bildern. Nur schöner wäre es, dorthin zu reisen und zu klettern.

«Die so schönen Dolomiten… Ja! Und wir werden uns wieder von einem Turm zum anderen zurufen wie damals, als wir uns vom Winkler[turm] zur [Punta] Emma im Gesang herausforderten, indem wir die schönsten Lieder unserer Alpen zum Besten gaben und die Paula jenes stolze Lied der Bergsteiger des Kaisergebirges ‚Stolze Zinnen zu gewinnen‘ anstimmte und ich mit ‚Montagnes de ma vallée‘ antwortete. Die Leute, die zum Gartl aufstiegen, hielten an, um unserem Gesang zu lauschen (und um Luft zu nehmen) und schauten hinauf, um herauszufinden, woher die Stimmen kamen.»

Die beiden Sängerinnen sind zwei ganz grosse Kletterinnen der Alpinismusgeschichte, beide Pionierinnen des sechsten Grades mit je mehreren Erstbegehungen. Mary Varale (1895–1963), geboren als Maria Giovanna Gennaro in Marseille, aufgewachsen in Milano, verheiratet mit dem Sportjournalisten Vittorio Varale; 1933 die erste Begehung der berühmten Gelben Kante an der Kleinen Zinne gemeinsam mit Emilio Comici und Renato Zanutti. Paula Wiesinger (1907–2001) aus Bozen, verheiratet mit Hans Steger; 1929 zwei Neutouren an der Punta Emma zusammen mit Hans; 1932 in Cortina d’Ampezzo Weltmeisterin in der Abfahrt. Das Gesangsduett fand in der Rosengartengruppe mit den Vajolet-Türmen statt, im Gartl liegt die gleichnamige Hütte, auch Rifugio Re Alberto genannt. Und mit diesem König Albert I., dem belgischen König, kletterten Paula und Hans in der Zwischenkriegszeit schwierigste Routen.

Doch zurück zu den singenden Kletterinnen. Das Zitat von Mary Varale fand ich auf Seite 171 in einem 445seitigen Buch, das ich allen unbedingt empfehlen kann, die sich erstens für die Dolomiten interessieren und zweitens für Leute, die über Berge geschrieben haben, in welcher Form auch immer. Das Buch heisst „Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators. Was Reisende über die Dolomiten schrieben“.Verfasst hat es Ingrid Runggaldier, Übersetzerin im Amt für Sprachangelegenheiten der Autonomen Provinz Bozen und freie Publizistin; ein Meilenstein ist ihr „Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte“ (2011). Der Titel ihres neuen Buches bezieht sich auf einen Satz aus John Murrays Reiseführer „A Handbook for Travellers in Southern Germany“ von 1837, darin die Dolomiten als „teethed like the jaw of an alligator“ bezeichnet sind.

Ingrid Runggaldier vereint in ihrem Buch Auszüge aus Werken der Weltliteratur genauso wie Reiseberichte, Briefe und Tagebücher, und zwar aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; zeitgenössische Literatur, zum Beispiel die vielen Dolomiten-Krimis, sind nicht berücksichtigt. Etliche Textauszüge aus dem Englischen, Französischen oder Italienischen wurden erstmals ins Deutsche übersetzt, wie eben die Erinnerung von Mary Varale. Doch wir lesen nicht nur die Texten des Geologen und Namensgebers Dolomieu, der Pioniere Josiah Gilbert und George C. Churchill, des Reisebuchautors Karl Baedeker, des Zionisten Theodor Herzl, des italienischen Dichters Giosuè Carducci, des Kriegsreporters Robert Musil, der Krimiautorin Agatha Christie oder der Begründerin des modernen Frauenbergsteigens Jeanne Immink. Sondern auch die Biografien der Schreibenden, angeseilt in der damaligen Zeit. Das Literaturverzeichnis umfasst 18 Seiten, das Register sieben.

Einen Namen sucht man vergebens: Vicki Baum. Die österreichische Schriftstellerin wurde und ist bekannt durch ihren Roman „Menschen im Hotel“ (1929). Vergessen ist leider ihre grossartige alpin-touristische Novelle „Das Joch“, veröffentlicht im Band „Die andern Tage“, 1931 wieder aufgelegt als achter und letzter Band von „Romane des Herzens“. Die Novelle mit dem gewollt doppeldeutigen Titel beginnt so: „Als Florentin auf der Paßhöhe den Zug verließ, griff Bergluft stark in sein Gesicht. Gleich sah er nach dem Zwölferkopf, sein Auge war schon bereit, die vertraute Kontur in sich aufzunehmen. Die Häupter standen da wie Freunde, im goldenen Nachmittagsnebel hintereinander geschichtet. Auf alten Tarockkarten sehen Berge so aus, so naiv an Perspektive, so klein und blau ins Ferne wandernd. Das Joch zwischen Zwölferkopf und der Roten Nadel war von einer tiefen, einzeln schwebenden Wolke verdeckt, auch die Rote Nadel streckte ihr spitzes Dolomitengezacke nur da und dort zwischen Dunst und Glast hervor.“

Die Alligatorzähne als Dolomitengezacke. Mehr davon gibt es im Juliheft von Meridiani Montagne: „Cristallo e Valle del Boite“. In diesem Tal liegt Cortina d’Ampezzo. Amelia Ann Blanford Edwards hat es ausführlich bereist und beschrieben; sie hat einen Ehrenplatz im Buch von Ingrid Runggaldier. Das Juliheft wird zusammen mit dem Fotoband „Grido di Pietra. Campanili, torri e monoliti dal Brenta alle Giulie“ verkauft. Auf dem Titelbild die stolzen Torri del Vajolet, mit dem Winklerturm rechts.

Ingrid Runggaldier: Gezahnt wie der Kiefer eines Alligators. Was Reisende über die Dolomiten schrieben. Edition Raetia, Bozen 2023. € 35,00. www.ingridrunggaldier.it

Meridiani Montagne: Cristallo e Valle del Boite. N° 123, Luglio 2023. Mit topografischer Karte und dem Fotoband Grido di Pietra. € 13,90. Erhältlich an Kiosken in Italien.

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