Zwei neue Gletscherbücher. Eines mehr zum Lesen. Das andere mehr zum Anschauen.
«Die schneebedeckten Gipfel rötet das Abendlicht.
Die Heiterkeit der Gletscher! Keines Menschen Fuβ
entweiht des Himmels kühles, reines Höhngeschenk,
den Blütenschnee vom Weltbaum des Erkenntnisses.»
So hoch oben dichtete vor rund 120 Jahren Christian Morgenstern, als er im hohen Norden den dortigen Gletschern begegnete. Die vier zitierten Zeilen finden sich in der fünften Strophe des achtstrophigen Gedichts „Nordstrand“, das 1902 im Band „Und aber ründet sich ein Kranz“ veröffentlicht wurde. Und das jetzt Aufnahme fand in das gediegene, eisblaue Buch »In den Gletschern der Erinnerung«, das Patrick Hegglin herausgegeben und mit einem Vorwort versehen hat. Die „Literarischen Gletscherbilder aus drei Jahrhunderten“ umfassen zwanzig Texte und Gedichte von Albrecht von Haller (1729) bis Halldór Laxness (1968) sowie den extra fürs Buch geschriebenen Essay „Gletscherhände“ von Peter Weibel.
Sehr lesens- und bedenkenswert, diese drei Seiten von Weibel. Wie wir ja mittlerweise wissen, muss der Mensch die Gletscher nicht betreten, um diese zu entweihen bzw. zum Verschwinden zu bringen. Es genügt leider, wenn er das Klima anheizt. Weitere Entdeckungen im Buch sind zum Beispiel mit Jeremias Gotthelf und Walter Benjamin zu machen, neben Altvertrautem von Lord Byron oder Adalbert Stifter. Allerdings fehlt vom aufgenommenen Mark Twain gerade sein originelles Abenteuer auf dem Gornergletscher. Und der arme Tartarin von Alphonse Daudet blieb sogar ganz im „Blütenschnee“ stecken, nom-de-Dieu! Dabei haben genau seine eisigen Touren auf die Jungfrau und den Mont Blanc ein anderes, hautnahes Gletscherbild in die Literatur eingebracht. Tant pis! Illustriert ist das Buch mit elf schwarzweissen Fotos von Daniel Schwartz aus dem Zyklus „Theatrum Alpinum“.
„Alpengletscher. Eine Hommage.“ So heisst der grosse und gewichtige Bildband mit Aufnahmen des bekannten Fotografen Bernd Ritschel und mit Texten von ihm und der Glaziologin Andrea Fischer. Mit „Ehe sie verschwinden… Eine Bilderreise zu den Gletschern der Alpen“ lobt der Verlag das beeindruckende Werk. Es ist eine Würdigung an eine verwunschene, ja verschwundene Welt aus Eis und Firn. Ritschels Fotos sind oft wunderschön – und tun so noch mehr weh, weil sie in ein paar Jahren gar nicht mehr zu machen sind. Weil wir diese einmalige Landschaft vor unserer Haustüre bald auch nicht mehr selbst erleben können. Schade nur, dass die Legenden teils zu knapp sind, so dass man nicht genau weiss, welche Gletscher jetzt abgebildet sind. Zudem haben sich ein paar kleinere Spalten aufgetan: Der Rhonegletscher schmilzt nicht in den Glarner, sondern in den Urner Alpen; der Unteraargletscher zieht sich nicht im Lötschental zurück. Und bei der zweiseitigen Übersicht der Gletscher wurden die kleinen Gletscher der Presanella sicherheitshalber schon mal zu den Eisströmen Pers und Morteratsch gezügelt.
»In den Gletschern der Erinnerung«. Literarische Gletscherbilder aus drei Jahrhunderten. Mit zeitgenössischen Fotografien von Daniel Schwartz und einem Essay von Peter Weibel, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Patrick Hegglin. Edition Bücherlese, Luzern 2020, Fr. 29.-
Andrea Fischer/Bernd Ritschel: Alpengletscher. Eine Hommage. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2020, € 39.-