Wenn sich die Brust weitet und das Auge rundum schweift, spricht man vom Panoramablick. Der sich sogleich verengt, wenn ein alpines Bikini ins Gesichtsfeld gerät. Panoramen und Bikinis sind zu sehen in den besprochenen Büchern und Ausstellungen. In Bern, Genf und Marseille.
«Panorama boréal de la Becca de Nona (Pic d’Onze Heures) au S.S. Est de la Cité d’Aoste à l’altitude de 3165 mètres, soit les Alpes pennines vues de cette cime depuis le Mont Blanc jusques au Mont Rose. Par le Ch. G. Carrel av. 1855 »
Was für ein langer Titel! Was für ein wunderschönes Panorama! Georges Carrel hat es gezeichnet, Chorherr in Aosta und Antreiber der Erstbesteigung des Matterhorns von Italien aus. Den Titel setzte er über die ganze Länge des zusammenlegbaren Panoramas aus Papier. Für mich eines der zahlreichen Prunkstücke in der Ausstellung „J’aime les panoramas“, die noch während zehn Tagen im Musée Rath in Genf zu bewundern ist. Im Untertitel heisst sie „s’appropier le monde“, was mit Einverleiben, sich einer Sache bemächtigen übersetzt werden kann. Sich eben der Welt bemächtigen, visuell. Zeigen, was wir dem Auge erfassen – und was auch nicht. Sich einen Überblick verschaffen. Gestern und heute. In sechs Abfolgen: Le dispositif panoramique, le panorama comme relevé, la construction du point de vue, le panorama comme récit, le panorama comme substitut und l’homme face au grand paysage.
Der Titel der Ausstellung stammt aus der 2006 gedrehten Agentenparodie „OSS 117: le Caire nid d’espions“ (der Spion, der sich liebte) – ein schönes Paar fährt in einem schönen Cabriolet auf einen Aussichtspunkt zu, Hauptdarsteller Jean Dujardin steigt aus und sagt zu Bérénice Bejo, dass er Panoramas liebe. Ein Anspielung an die Szene aus Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“, in der Grace Kelly und Cary Grant in einem Cabriolet an einem Picknickplatz mit Blick auf die Côte d’Azur Halt machen. Diese Szene ist übrigens in der Ausstellung mit andern Ausschnitten aus Filmen zu sehen.
Das Panorama in dieser Ausstellung wird eben breit entrollt. Hoch ebenfalls, mit ausgestellten Riesengemälden wie Eiger, Mönch und Jungfrau von August Baud-Bovy oder – ziemlich überraschend – wie die Badenixen von Roy Lichtenstein. Beängstigend sind die Fotos der Schlachtfelder im Ersten Weltkrieg oder der heutigen Grenzmauer zwischen Israel und Palästina, nur halb hoffnungsfroh diejenigen von Marco Barbon mit Menschen, die auf einer Mauer sitzen und auf El Bahar (arabisch für Meer) blicken, fröhlich-farbig die Werbefotos von Kodak. Eigentlich fehlt nur ein Panorama: der „Prospect géométrique des montagnes neigées“ des Genfer Physikers und Geodäten Jaques-Barthélemy Micheli du Crest, ein Alpenpanorama, das er 1754 als bernischer Staatsgefangener auf der Festung Aarburg zeichnete. Diese Lücke ist aber kein Grund, die Exposition im Musée Rath zu verpassen. Und wenn wir schon in Genf sind: Unbedingt die meterlange Videoinstallation „Mer“ von Ange Leccia im 2. Untergeschoss des neueröffneten Musée d’ethnographie de Genève anschauen gehen – einzigartig!
Apropos dringender Museumsbesuche: Am 5. Oktober stopft das Alpine Museum der Schweiz in Bern die Bikinis und Badehosen wieder zurück in die Badetasche bzw. hängt die grossformatigen Werbefotos von Hotel-Swimmingpools in den Schweizer Bergen, die die Kunstanstalt Brügger Meiringen von den 1950er bis in 1980er Jahren schuf, zurück in die Sammlung. Rund 100’000 Fotos der Kunstanstalt sind seit 2013 im Besitz des Alpinen Museums; 48 sind nun zu sehen – und auch zu verschicken. Denn zur Ausstellung ist ein gediegenes Postkartenbuch erschienen, mit einer Einleitung von Museumsdirektor Beat Hächler und mit Textbeiträgen von Köbi Gantenbein, Stefan Hächler und Meret Speiser. Diejenige vom Hotel Beau Rivage in Lausanne verschicken wir von der Reise an den Genfer See, und die vom Hotel Victoria-Jungfrau in Interlaken, wenn wir in Thun das Panoramabild von Marquard Wocher besuchen, das älteste noch erhaltene Rundgemälde weltweit. Es ist 7,5 Meter hoch und 38 Meter lang, befindet sich in einem Rundbau, dessen Anbau vor kurzem durch die Stiftung Auszeichnung Berner Baukultur einen Preis erhielt.
„J’aime les panoramas.“ S’appropier le monde. Sous la direction de Laurence Madeline et Jean-Roch Bouiller. Flammarion, Paris 2015, Fr. 43.-
Die gleichnamige Ausstellung im Musée Rath in Genf läuft bis zum 27. September 2015;
vom 4. November 2015 bis zum 29. Februar 2016 wird sie im Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée in Marseille gezeigt.
Bikini in den Bergen. Badefotografie der Kunstanstalt Brügger Meiringen. Ein Postkartenbuch. Alpines Museum der Schweiz, Bern und Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2015, Fr. 24.- Die dazugehörige Ausstellung im Biwak des Alpinen Museums ist noch bis zum 4. Oktober 2015 zu sehen.