Mental und geografisch am Rand der Schweiz: Der Jura, der uns gegen den Wilden Westen schützt als Croissant aus Kalk. Man weiss ja: Von den Rändern her wächst das Neue, von Bakunin bis Swatch. Aber hier geht es nicht um Revolutionen. Sondern um einen neuen Bildbandführer gegen deutschschweizer Bildungslücken. Französisch natürlich.
„Die letzten [Eisgebirge], links im Oberland, schienen in einen leichten Feuerdampf aufzuschmelzen; die nächsten standen noch mit wohl bestimmten roten Seiten gegen uns, nach und nach wurden jene weiß, grün, graulich. Es sah fast ängstlich aus. Wie ein gewaltiger Körper von außen gegen das Herz abstirbt, so erblaßten alle langsam gegen den Montblanc zu, dessen weiter Busen noch immer rot herüber glänzte.“
So beschrieb Johann Wolfang Goethe auf seiner zweiten Schweizer Reise, am 27. Oktober 1779, den Sonnenuntergang von La Dôle, vom westlichsten Gipfel der Schweiz. 233 Jahre später ist wiederum Spätherbst, weiss leuchteten gestern Mittwoch die Vor- und Hochalpen über den rötlich-braunen, grün-erdigen Wäldern und Feldern des Mittellandes. Der Oktoberschnee ist liegen geblieben, verspricht eigentlich Spur- und Fahrvergnügen. In Mulden und Rinnen hat sich wohl schon genügend Schnee angehäuft, so dass es unter den Laufflächen nimmer knirschen täte. Zum Wandern hingegen dürfte schon etwas zu viel liegen. Wohin dann in die Höhe, wenn der Nebel über dem Mittelland liegt, wie gebietsweise heute Donnerstag?
Da gibt es doch noch ein anderes Gebirge in der Schweiz. Eines, das buchstäblich am Rande der Schweiz liegt. Mental auch: 10 Prozent Helvetiens macht es eigentlich aus, aber wenn von Schweizer Bergen die Rede ist, meint man doch immer die Gipfelwelt zwischen Rochers de Naye und Säntis und nicht diejenige zwischen La Dôle und Lägeren.
Der Jura also. Ein 250 km langes Gebirge zwischen der Schweiz und Frankreich, das sich croissantförmig vom Lac du Bourget am Rande der Westalpen in nordöstlicher Richtung gegen Zürich erstreckt. Der gefaltete Kettenjura markiert den Südostrand des Jura gegen das Schweizer Mittelland, vom Rhonedurchbruch bei Genf bis zum Aaredurchbruch nördlich von Baden. Fast am Stadtrand von Genf stehen die höchsten jurassischen Faltungen: phantastische Aussichtspunkte auf den grössten See Westeuropas und auf die schönsten Gipfel der Alpen.
Nun gibt es einen neuen Bildbandführer, der den französischsprachigen Jura zwischen dem Reculet ob Genf und dem Chasseral ob Bienne in seiner Schönheit zeigt. Die Autoren schlagen 16 Rundwanderungen vor, wovon 11 in der Schweiz. Ganz unterschiedliche Touren, mal über die höchsten Kreten, mal durch die grössten Wälder, zur Dôle und zum Creux du Van, zur Quelle des Doubs und zum Lac de Taillères im eiskalten Hochtal von La Brévine (in diesem See badete ich in diesem Sommer, nur ein paar Stunden, nachdem wir in der Glacière de Monlési einen unterirdischen Gletscher bewundert hatten). Die Fotos schuf Benoît Renevey: ein Fest fürs Auge, Natur pur, Fauna und Flora in allen Farben und Formen. Ein Gedicht! Gedicht? Hier ist es – Ausschnitt aus „Genfer See“ von Friedrich von Matthisson, anno 1821:
„Schön ist’s, von Aetna’s Haupt des Meeres Plan,
Voll grüner Eiland‘, und die Fabelauen
Siciliens und Strombolis Vulkan,
Beglänzt von Phöbus erstem Strahl, zu schauen:
Doch schöner, wenn der Sommertag sich neigt,
Den Zaubersee, hoch von der Dole Rücken,
Wie Lunas Silberhörner sanft gebeugt,
Umragt von Riesengipfeln, zu erblicken.“
Benoît Renevey (photographies); Aino Adriaens, Christian Lavorel (textes): Jura de combes en crêts. 16 propositions de balades. Éditions Slatkine, Genève 2012. Fr. 69.-