Keine Verbrechen in den Bergen

Wen die Sehnsucht nach der kalifornischen Sierra packt, den Kiefernwäldern, den Granitfelsen, der greift mit Gewinn nach den besprochenen Büchern. Raimond Chandler für die atemlose Spannung und die dichten Schilderungen, Daniel Anker für die spannenden und atemberaubenden Wanderrouten. Der nächste Schritt heisst: Flugticket buchen, der Dollarkurs ist eh im Keller.

„Es war heiss im Tal, heisser noch in San Bernardino, und in fünftausend Fuss Höhe, nach fünfzehn Meilen Fahrt im ersten Gang auf der Bergstrasse zum Puma Lake hinauf, war es noch immer heiss. Ich hatte bereits vierzig von den fünfzig Meilen der vertrackten, kurvenreichen Strasse geschafft, als es anfing, sich abzukühlen, aber richtig kühl wurde es erst, als ich den Damm erreicht und am Südufer des Sees entlangfuhr, vorbei an den aufgetürmten Granitblöcken und an den Campingplätzen, die sich dahinter breitmachten.“

So schildert der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler – am 23. Juli 1888, also vor 125 Jahren in Chicago geboren und am 26. März 1959 in La Jolla in Südkalifornien gestorben – in der 1941 veröffentlichten Erzählung „Keine Verbrechen in den Bergen“ die Fahrt seines Helden von Los Angeles nach Big Bear Lake auf über 2000 Meter über dem Pazifik. Von 1939 bis 1942 lebte Chandler in einem Häuschen bei Big Bear Lake, damals eine aufkommende Sommer- und Winterfrische in den San Bernardino Mountains nordöstlich von Los Angeles. Entdeckt hatten die Gegend Holzfäller; die Lodgepole-Kiefern erreichen hier ungewohnte Höhen. Danach siebten die Goldsucher die Bäche leer. Später wurden diese zur Bewässerung der Zitrusfrüchteplantagen in der Ebene unten gestaut. Schliesslich kamen die Touristen, freuten sich über den künstlichen See und die kühle Luft, obwohl diese mehr und mehr benzingeschwängert war. Schon in den 1930er Jahren stauten sich die Autos auf der Hauptstrasse von Big Bear Lake. Der Ort ähnelt heute einem St. Moritz oder Cortina d’Ampezzo in Südkalifornien; vielleicht etwas weniger versnobt, doch ebenso sehr überbaut.

Chandler liess das Lokalkolorit in zwei seiner Erzählungen einfliessen, in „No Crime in the Mountains“ und in „The Lady in the Lake“. 1943 folge der Roman über die (tote) Dame im See. Mit dem See ist nicht der Big Bear Lake gemeint – Chandler nennt ihn Puma Lake –, sondern der kleine Cedar Lake. „Plötzlich lag unter mir ein kleiner ovaler See, tief eingebettet zwischen Bäumen und Felsen und wildem Gras, wie ein Trautropfen, der sich in einem gerollten Blatt gefangen hat. Am näheren Ende lag ein gelber Betondamm mit einem Seil als Geländer und einem alten Mühlenrad an der Seite.“ Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe hatte sich unberechtigterweise Zutritt zu diesem privaten See verschafft. Später erfahren die Leser, dass das Mühlenrad am Little Fawn Lake, wie er bei Chandler heisst, für Filmaufnahmen diente. Tatsächlich war dieser kleine See Schauplatz des ersten Technicolorfilms und vieler anderer Filme. Der Cedar Lake ist noch immer in privater Hand; wer zu ihm vordringen will, muss wie Marlowe das Schild „Kein Zutritt“ ignorieren.

Frei zugänglich ist hingegen der Castle Rock (2255 m), erreichbar durch eine einstündige Wanderung vom Highway 18 an der Südwestecke des Big Bear Lake, wobei zuoberst eine kurze Kletterei im II. Schwierigkeitsgrad den Gipfelzutritt würzt. Die Sage erzählt, dass auf diesem grossen Granitbrocken eine junge Indianerfrau sitzen soll, darauf wartend, dass ihr Geliebter doch noch zurückkehrt. Was ihm wohl zugestossen ist? Doch ein Verbrechen in den Bergen.

Raymond Chandler: Mord im Regen. Frühe Stories, Diogenes Taschenbuch, 2009.
Daniel Anker: Wanderungen in Kalifornien, Bruckmann, 1995.

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