La mémoire panoramique

Sich von einem Berg stürzen wollten schon einige Dichter, Ludwig Hohl und Hans Morgenthaler – und auch Michel Barouche im Roman von Silvain Jouty. Ob in den letzten Sekunden das ganze Leben an einem vorbeizieht wie in der literarischen Umsetzung, weiss man allerdings nicht – es ist ja noch keiner zurückgekehrt. Auch König Albert I von Belgien nicht, der beim Soloklettern 1934 in den Tod stürzte und nach dem der King Albert Moutain Award benannt ist, den dieses Jahr unter andern Silvain Jouty bekommen hat.

„Tour se déroula parfaitement. Le sentier depuis Maloja était bien tracé et balisé ; de plus, comme prévu par Klucker, des traces de pas dans la neige et de vieilles empreintes de ski à demi effacées par le soleil indiquaient sûrement l’itinéraire. Il faisait beau, la montagne respirait l’harmonie et la paix. Le seul problème, c’était le souffle et les jambes ; Michel Barouche regretta de n’être plus un jeune homme et d’avoir attendu la cinquantaine pour apprendre à apprécier les paysages. Mails il ne manquait pas de volonté, et souffrir ne la dérangeait pas. Il prit à l’ascension un réel plaisir.“

Ob das gut kommt? Ob das Vergnügen anhält, auf den Piz Lunghin zu steigen, Mitte Juni 1986, wo noch viel Schnee liegt, wo die nicht mehr jungen und trainierten Beine immer schwerer werden, die Sonne stärker brennt. Der Schriftsteller Michel Barouche ist von Paris ins Engadin gereist, nicht um etwa den berühmten Gipfel oberhalb von Maloja zu besteigen. Sondern um aus dem Leben zu gehen, im Silsersee, am liebsten unweit der Nietzsche-Tafel auf der Halbinsel Chastè. Er hat genug vom zu erfolgreichen Schreiben, wollte sich schon wie der Philosoph Empedokles in den Ätna stürzen (obwohl das eine frei erfundene Legende ist). Und nun steigt er auf den Piz Lunghin, weil ihm der alte Hotelier Klucker davon erzählt hat, von diesem besonderen Gipfel und Pass, von wo Regentropfen bzw. Schneekristalle sich gegen drei Meer aufmachen können: Nordsee, Mittelmeer, Schwarzes Meer. Dieser Gedanke, diese geographische Besonderheit fasziniert Barouche, und wie er dann, nach der erfolgreichen Besteigung des Gipfels, den genauen Mittelpunkt dieser dreiteiligen Wasserscheide sucht, passiert es. Er rutscht aus und stürzt, 300 Meter in die Tiefe. Und überlebt. Obwohl er während des Sturzes geglaubt hat, er sterbe. Während des Falles ist das ganze Leben an ihm vorbeigezogen, wie wenn man auf einem Aussichtspunkt stände und sich ringsum blickend noch einmal an die bekannten und vor allem auch vergessenen Stationen des Lebens erinnerte. Im Französischen gibt es dazu einen perfekt passenden Ausdruck: „La mémoire panoramique.“

So heisst auch der 2002 publizierte Roman des französischen Alpinisten, Historikers und Schriftstellers Sylvain Jouty, der nun eine Woche im Engadin verbracht hat, zuerst im Hotel Walther in Pontresina, dann im Hotel Cristallina in Plaun da Lej am Silsersee, fast am Fusse des Piz Lunghin. Mais pourquoi? Weilte er auf den Spuren seines Romanhelden? Mais non! Jouty wurde, mit fünf andern Persönlichkeiten zusammen, im Segantini-Museum von St. Moritz für sein Werk ausgezeichnet, und zwar mit dem goldenen King Albert Mountain Award. Diesen Preis übergibt die King Albert I Memorial Foundation Personen oder Institutionen, die sich durch ihre Leistungen in irgendeinem Bereich, der mit den Bergen der Welt in Zusammenhang steht, herausragende und nachhaltige Verdienste erworben haben.

Seit 40 Jahren beschäftigt sich Sylvain Jouty mit der Geschichte des Alpinismus und der Berge in allen Facetten und hat dazu mehrere grundlegende Werke verfasst. Sein Oeuvre umfasst Sachbücher, Romane und zahlreiche Artikel. So den 1999 erstmals aufgelegten „Dictionnaire de la montagne“, „Montagne, les grandes premières“ (2000) und „Les mots de la montagne“ (2006), ein grossartiges Taschenbuch voller Erklärungen und Zitate zum überraschend vielfältigen alpinen Wortschatz. Beim „Dictionnaire des Alpes“ (2005), dem bisher vollständigsten und umfassendsten Alpenlexikon, wirkte Jouty als Herausgeber und Mitverfasser. Davon ist einiges in „La mémoire panoramique“ eingeflossen. Was heisst, dass man im Französischen mehr als plaisir verstehen sollte, wenn man ohne zu grosse Anstrengung mit Barouche auf den Lunghin steigen und mit Jouty in die philosophische Geschichte des Sich-Erinners eintauchen möchte.

Ja, nicht vergessen: Neben Jouty erhielten der Höhenmediziner Peter Bärtsch (Schweiz), der Naturschützer Mario Broggi (Schweiz), der Alpinist Mick Fowler (Grossbritannien), der Fotograf Lois Hechenblaikner (Österreich) sowie der Gebirgsforscher Martin Price (Grossbritannien) die Goldmedaille zu Ehren des belgischen Königs Albert I. (1875-1934), der selbst ein grosser Alpinist und vor allem Kletterer war, und der seine alpinistische Karriere im Engadin begonnen hatte. Am 17. Februar 1934 stürzte er in Marche-les-Dames bei Namur (Belgien) beim Soloklettern ab.

Sylvain Jouty: La mémoire panoramique, Fayard, Paris 2002, € 18.-
Die Broschüre zur King Albert I Memorial Foundation mit allen 48 Preisträgern von 1994 bis 2012 sowie mit vielen Fotos und Texten in vier Sprachen zum Roi Alpiniste kann für Fr. 15.- bezogen werden bei der Buchhandlung Piz Buch & Berg, www.pizbube.ch.

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