Leiden und lieben am Berg

Vier Alpenromane zur 75. Frankfurter Buchmesse.

«Peter schwang die Peitsche und die Pferde zogen an. Helene sah ihm nach, als er die gewundene Straße zur Schöllenen hinauffuhr. Vom Haus der Posthalters führte mittlerweile ein Weg quer durchs Stäubeloch zur Baustelle. Dort standen neben dem Weg zum Voreinschnitt notdürftige Baracken, die offensichtlich aus Holzresten gezimmert worden waren, daneben errichteten Arbeiter mit Stangen und Tüchern provisorische Zelte. Helene schüttelte den Kopf. Diese Zelte würden beim ersten Herbststurm davongefegt werden und die Baracken mochten im Sommer den Regen abhalten, doch im Winter würde es darin viel zu kalt werden.»

Helene Herger ist die Hauptfigur im Roman „Bergleuchten“ von Karin Seemayer, Peter Gisler ist ihr Freund von klein auf. Ihre Väter sind Fuhrhalter, deren Geschäfte mit dem Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels von 1872 bis 1882 gehörig durcheinander gerüttelt werden. Die drei Nachfolgetunnels sorgten in diesem Jahr für zahlreiche Schlagzeilen. Das tat auch der erste Durchstich durch den Berg, und der Roman schildert eindringlich, unter welch miserablen Bedingungen die Bauarbeiter schuften und leben mussten. Allerdings blüht auch eine Liebe auf, und im Prolog des Romans, bei der Einweihung des Gotthard-Tunnels, steht Helene mit den Kindern neben ihrem Mann – ist es nun Peter oder doch Piero Ceretti, der Mineur aus dem Piemont? Selber lesen.

«Alessandro senkte den Blick. Plötzlich waren sie wieder da, die Bilder. Die Bilder vom Bergunfall und die grausamen, unbeantworteten Fragen. War er mitschuldig am Tod seines Vaters? Hatte er das Seil wirklich richtig gesichert? Er hörte die gefühllosen Worte seiner Mutter beim Begräbnis: „Dich trifft keine Schuld. Unfälle geschehen.“ Über den Unfall war nie wieder gesprochen worden.»

Diese Fragen werden im Roman „Tod im Val Fex“ von Andrea Gutgsell aufgerollt. Ex-Kommissar Gubler arbeitet im Fextal als Schafhirte, irgendwie muss er den Verlust von Beruf und Ansehen überwinden – ein nicht ganz unbekanntes Thema. Dann wird am abschmelzenden Vadret da Fex eine Leiche gefunden, und die Suche nach deren Identität und dem Geheimnis dahinter beginnt. Viel Spass beim Lesen dieser Krimi-, Liebes- und Schmugglergeschichte im Engadin – dort ist es jetzt am schönsten, wenn die Lärchen gelb, die Bergspitzen weiss und der Himmel blau ist. Aber das wisst Ihr ja!

«Kurz vor dem Unglück war Xaver den beiden im Supermarkt begegnet. Tina hatte ihm vorgeschlagen, sie einmal zu begleiten. Im abseitigen Gelände habe das Schifahren noch etwas Anarchistisches, keine Lifte oder Schirmbars, nur die Felsen und der Schnee und man selbst, ganz auf das eigene Können, den eigenen Biss zurückgeworfen. Noah hatte erzählt, dass er sich eine neue Helmkamera besorgt habe.»

Lesen wir auf Seite 72 im Roman „Verschwinden in Lawinen“ von Robert Prosser. Aber Tina und Noah sind doch bzw. schon tot, auf der dritten Seite im Buch bittet der Pfarrer beim Begräbnis der beiden, man möge sie in die eigenen Gebete aufnehmen. Das ist das Faszinierende und war für mich das Schwierige an dieser Geschichte: dass es von Anfang für die Jugendlichen keine Rettung aus der Lawine gab. Klar, da sind wie oft diese bohrenden, hartnäckigen Fragen beim Verunfallen, beim Verschwinden in den Bergen: Warum gingen sie, warum ging ich bei diesen Verhältnissen auf diese Tour los, warum war eine Rettung nicht möglich oder erfolgreich? Aber einfach sicher zu Hause bleiben und (Berg-)Romane lesen, geht irgendwie auch nicht, oder?

«Sobald du dich erholt hast, musst du dich verstecken, zumindest, bis man dich vergessen hat. Vielleicht wäre es am besten, wenn du dich über die Berge davonmachst, ins Land Italien. Wenn du der Reuss folgst, dem Strom entgegen, bis du auf die Hochebenen des Gotthards kommst, hast du die größten Strapazen hinter dir. Die Seen sind jetzt gewiss schon zugefroren, du müsstest gut vorankommen.»

Sagt Vater Taufer zum schwer verletzten Wilhelm im Roman „Tell“ von Joachim B. Schmidt. Die Hauptfigur im eidgenössischen Gründungsmythos verletzt? Aber nicht doch! Der Gessler liegt doch darnieder, seine Gesellen auch, und Wilhelm muss sich nicht verstecken, sondern jagt weiterhin mit der Armbrust nach wilden Tieren im Urnerland. Tut er ebenfalls, zumindest zu Beginn, in diesem frischen und frechen, überraschenden und überzeugenden Tell-Roman. Mehr sei nicht verraten, ausser: Der Diogenes-Autor hat nächste Woche seine Auftritte an der 75. Frankfurter Buchmesse. Und sonst? Jetzt, wo es kälter und grauer wird, hocken wir auf dem Sofa, ein Glas Apfelpunsch in der linken, einen Bergroman in der rechten Hand.

Karin Seemayer: Bergleuchten. Aufbau, Berlin 2023. € 14,00.

Andrea Gutgsell: Tod im Val Fex. Zytglogge, Basel 2022. Fr. 32.-

Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen. Jung und Jung, Salzburg 2023. € 22,00.

Joachim B. Schmidt: Tell. Diogenes, Zürich 2022. Fr. 31.-

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