Lenz

Auf dem Kopf gehen – das möchten wir auch gelegentlich, etwa wenn unsere Füsse beim Wandern schmerzen. Georg Büchners Lenz trug einen tieferen Schmerz in sich, als er durchs Gebirge ging – in einem der grossartigsten Prosastücke der Deutschen Literatur.

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„Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.
Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht – und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.
Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“

So beginnt eine der ganz bekannten Erzählungen deutscher Literatur. Stark, präzise und fröstelnd die Beschreibung der winterlichen Natur. Man glaubt, die Feuchtigkeit, die Nässe zu riechen, zu spüren. Gute Schriftsteller konnten und können das, mit wenigen Strichen buchstäblich eine Landschaft entwerfen. Und dann, wie aus dem Nichts heraus, dieser Nebensatz. Beim vorangehenden Hauptsatz denken wir vielleicht, dass es dem Wanderer unangenehm war, wenn feuchtes Gebüsch seine Hosenbeine nässte, oder so was Ähnliches. Auf jeden Fall nicht das, was Georg Büchner schrieb: „..daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“

Und genau darum geht es. Die 1839 posthum publizierte Erzählung „Lenz“ beschreibt den sich verschlechternden Geisteszustand des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz , schildert seine immer verzweifelter wirkenden Wanderungen durch die winterlichen Vogesen. Doch wie Büchner das macht, wie er diese unwirtliche, von kurzen Sonnenstrahlen erleuchtete Landschaft mit dem ver(w)irrten Wanderer korrespondieren lässt – wahnsinnig gut. Am Schluss bringt Johann Friedrich Oberlin, bei dem Lenz Aufnahme und Zuspruch gefunden hat, den Kranken nach Strassburg, und der berühmte letzte Satz lautet so: „Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat Alles wie es die Anderen taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last – So lebte er hin.“

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Michael Andermatt seziert Büchners „Lenz“, aber auch Hallers „Alpen“, Tiecks „Runenberg“, Dürrenmatts „Winterkrieg“ sowie Werke anderer bekannter deutschsprachiger Schriftsteller, bei denen das Gebirge eine Rolle spielt, im Aufsatz mit dem etwas pompösen Titel „Transformation des Sakralen. Zur Literarisierung des Berges von der Aufklärung bis zur Gegenwart.“ Zu finden ist dieser Text im Band mit dem schlichten Titel „Berge“. Darin geht es auch um höherwachsende Pflanzen, um den Homo alpinus, um heilige Gipfel des Ostens, um Findlinge und die primitive Gesellschaft, ums Tatra-Gebirg.

Georg Büchner: Lenz. Text und Kommentar, Suhrkamp Basisbibliothek. Oder so:
http://www.zeno.org/Literatur/M/B%C3%BCchner,+Georg/Erz%C3%A4hlung/Lenz

Werner M. Egli, Ingrid Tomkowiak: Berge. Chronos Verlag, Zürich 2011, 38 Fr.

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