Martial Leiters leuchtende Schatten

Er heisst Leiter, doch ein Kletterer ist er nicht. Sondern einer der schärfsten, politischsten Karikaturisten und Künstler der Schweiz. Er nähert sich dem Berg mit Stift und Tusche. Vor allem dem Eiger, dessen Nordwand ihn von Jugend an fasziniert hat. Zusammen mit exzellenten Autoren ergründet er in einem Buch das Mysterium der Eigerwand.

Cover Leiter

„Vendredi 2 février je suis parti en expédition solitaire – et en train – au pied de l’Eigerwand.
Le matin à 9 heures, à Grindelwald, la lumière était fade et la paroi semblait très sèche et peu sculptée. Tant pis, n’écoutant que mon courage, je sautai dans le train pour la Kleine Scheidegg.
Je n’eus pas à le regretter. Vers 10 heures, la lumière changea complètement. J’eus, un moment, l’impression de me trouver dans une gravure. Les montagnes presque monochromes semblaient vraiment comme gravées dans le vide, ou le papier, se confondant dans un magnifique blanc-gris perlé.“

Schrieb mir der Westschweizer Karikaturist, Zeichner und Maler Martial Leiter im Februar 2001, als er wieder mal seinen Berg, seine Wand besuchte. Den Eiger, die Nordwand. Nun ist eine so grosse wie grossartige Publikation zum Leiterschen Kosmos erschienen, in deren Zentrum der Eiger steht: „Les Ombres éblouissantes“, was mit „die leuchtenden Schatten“ übersetzt werden könnte. Und wer ist auf dem Titelbild? Der Nordwand von der Spinne bis zum Gipfel. Mais bien-sûr.

Fünf Jahre alt war Martial Leiter, als der Eiger in sein Leben trat. Am Radio zuhause in der guten Stube, fast zuoberst im Val de Travers im kalten Neuenburger Jura, da hörte er vom Drama im oberen Teil der Eigernordwand, von der geglückten Rettung Cortis und der verunglückten Longhis. August 1957, und der kleine Martial verfolgt das Geschehen, bis nur noch die letzten Worte übrig bleiben: Fam, frecc – Hunger, kalt. Mit 14 Jahren stand er zum ersten Mal vor der Wand, ganz frisch noch die Erinnerung an den Todessturz von John Harlin. Mit dem Fernrohr suchte Martial Leiter nach den Kreuzen in der Wand, weil er dachte, sie seien auch dort, und nicht nur in den Fotos eingezeichnet.

Voilà: Dort die Wand, hier das Papier, und dazwischen Geschichten, Vorstellungen. Anschauen, tagelang; zu Papier bringen, immer wieder. Der Eiger hat Martial nie mehr losgelassen. „J’ai tellement scruté cette paroi qu’elle m’est aussi familière qu’un visage.“ Im Geheimen hat Leiter daran gearbeitet, hat ihn zuweilen – mehr allerdings das Matterhorn – als Zeichen für die Schweiz gebraucht, in seinen Karikaturen, die ihn berühmt gemacht haben. Niklaus Meienberg war von den Klärstrichen begeistert, die Leser der „WochenZeitung“ und von „Le Monde“ waren es auch.

Und dann, im Mai 2000, stellte Leiter in Neuchâtel Bergbilder aus. Nur Gipfel und Grate, gepinselt, geritzt, gezeichnet, weiss-grau-schwarz, kaum Farbe. Die andere Seite von Leiter. Keine Satiren, keine Karikaturen, Berge pur. Einer steht im Mittelpunkt: der Eiger mit der Nordwand. Ihrer Struktur, ihren Dramen. Die Spinne wird zur Spinne. Longhi hängt nicht mehr drin, aber die Erinnerung daran ist spürbar.

Die Wand wird zur Tafel, der Berg zum Stein. Als ich Martial Leiter einmal in Lausanne besuchte, sagte er mir: „L’Eiger est la plus grande pierre à encre“ – „Der Eiger ist der grösste Reibstein.“ Darunter versteht man laut Wikipedia ein steinernes Objekt mit einer Vertiefung für Wasser und einer Fläche für das Anreiben der Tusche.

Und jetzt diese Monografie. Mächtig wie der Eiger. Ja wie sein grösster Bewunderer auch, dieser grossgewachsene, bärtige und heute kahlköpfige Künstler, der so leichthändig mit seinen Stiften, mit seinen Pinseln umgeht. 320 Seiten dick sind die Ombres éblouissantes, 245 Klärstriche, Radierungen, Gemälde, Tusch-, Kohle- und Kreidezeichnungen, davon ein Drittel Bergbilder, die meisten dem kolossalen Stein ob Grindelwald gewidmet. Im Gespräch mit Philipp Garnier erklärt Leiter seine Beziehung zum Eiger, Daniel de Roulet ergründet in einem Kapitel „Martial Leiter et le mystère de la face nord de l’Eiger.“

In das Exemplar, das er mir schickte, schrieb er am Schluss seiner langen Widmung: „Avec mon amitié Eigerwandesque.“

Martial Leiter: Les Ombres éblouissantes. Avec des textes de Daniel de Roulet, Christophe Gallaz, Françoise Jaunin et Philippe Garnier. Les Cahiers dessinés, Paris 2015, Fr. 65.- www.lescahiersdessines.fr

In Lausanne ist bis zum 12. Dezember 2015 die Ausstellung „Encres“ von Martial Leiter zu sehen; Espace Richterbuxtorf an der Avenue William Fraisse 6, www.richterbuxtorf.ch .

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