Die Lawinenverbauungen am Chüenihorn oberhalb von St. Antönien sind auf den ersten Blick keine Augenweide, doch ihre besondere Ästhetik (vergleichbar mit Rostskulpturen moderner Plastiker), hat den Fotografen dieses Bildbandes offensichtlich fasziniert – ebenso die Textautor/-innen, die von der Geschichte des schönen Hochtals erzählen. Uns junge Kletterer diente die Baustelle als schnelle Zufahrt zu den Rätikonfelsen – heute ist die Strasse gesperrt. Mehr oder weniger.
„Den 3. Januar, eine Weile in der Nacht, kam die Mattenlawine und ging über Valtin Härtlis Haus und Stall auf dem Meierhof, wahrscheinlich auf dem äusseren Meierhof ob dem Weg, jedoch ohne diese Gemächer zu beschädigen, hingegen bei den untern Häusern, vielleicht auf dem äussern Meierhof unter dem Weg, zerstörte sie einen Stall und tötete in demselben 2 Kühe, 3 Galti, 2 Kälber und 2 Schafe. Desgleichen schlug sie einen Stall auf dem Börtli auf die Matte herunter.“
So berichtet der Chronist Peter Ruosch über den ersten schweren Lawinenwinter im Tal von St. Antönien. Das war im Jahre 1668 gewesen, und in den folgenden drei Jahrhunderten sind immer wieder Lawinen von den steilen Grasbergen in diesem Seitentale des Prättigaus heruntergedonnert, haben Bannwälder entwurzelt, Ställe mitgerissen, Häuser zertrümmert, Menschen erschlagen. Und obwohl die Lawinenunglücke zusehends verheerender wurden – 1935 bespielsweise waren 7 Menschen und 20 Gebäude zu beklagen, im Januar 1951, dem katastrophalen Lawinenwinter in den Alpen, 1 Mann, 50 Tiere, 42 gänzlich zerstörte Gebäude – gaben die Bewohner von St. Antönien nicht auf, bauten ihre Häuser immer wieder auf. Ab 1797 schützten sie diese hangseitig mit keilförmigen Erd- und Steinwällen, sogenannten „Ebihöch“. Doch erst als ab 1953 am Chüenihorn (2413 m), dem gefährlichsten St. Antönier Lawinenberg, und am Nachbarsgipfel Tschatschuggen Verbauungen erstellt wurden und Aufforstungen erfolgten, mussten die Leute bei starken Schneefällen nicht mehr –um ihr Leben bangen. Millionen Franken kosteten diese grössten Lawinenschutzbauten in der Schweiz.
Schuld daran, dass der weisse Tod die Geschichte dieses Tales am Rande der Schweiz wie ein roter Faden durchläuft, sind nicht zuletzt deren Bewohner selbst. Allen voran die Walser, die ab dem 13. Jahrhundert die Bergwaldwildnis rodeten, um diese nutzbar zu machen. Platzbedarf, Häuserbau und schliesslich noch Bergbau im Tal von Gafia rissen immer grössere Lücken in die Wälder, die ihre Schutzfunktion zusehends verloren. Stahl- und Betonskelette auf über 16 Kilometern ersetzen heute die Bäume – und schützen diese auch, denn gleichzeitig mit den Bauten wurden 450‘000 Setzlinge gesetzt.
Zu den Lawinenschutzbauten in St. Antönien ist nun ein Fotobuch mit faszinierenden Fotos von Kaspar Thalmann und schlauen Essays von Nadine Olonetzky, Stefan Hotz und Köbi Gantenbein. Bild und Text beschäftigen sich mit brisanten Fragen rund um die Lebensraumsicherung für die Menschen, den Landschafts- und Naturschutz in den Alpen, den Wert sogenannter potenzialarmer Regionen und des Tourismus. Lohnte sich der Aufwand? Oder hätte man das Tal aufgeben sollen? Nach dem Betrachten und dem Lesen wird klar: Hätte man nicht.
Wer’s nicht glaubt, befasst sich mit dem Buch. Beispielsweise am kommenden Donnerstag anlässlich der Buchvernissage im Alpinen Museum in Bern. Und wer diesen so ganz besonderen Berg näher kennenlernen will, plante eine Frühlingsskitour aufs Chüenihorn. Ich machte sie im März 2013 und hielt im Tourenbuch fest: „Das Fahren zwischen den Lawinenverbauungen gleicht einem Riesenslalom.“
Oder das Tal aufgeben. Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien. Fotografien von Kaspar Thalmann. Mit Beiträgen von Nadine Olonetzky, Stefan Hotz und Köbi Gantenbein. Scheidegger & Spiess, Zürich 2015, Fr. 49.- www.scheidegger-spiess.ch
Die Buchvernissage findet statt am Donnerstag, 19. November 2015, um 19 Uhr im Alpinen Museum in Bern. www.alpinesmuseum.ch/de/veranstaltungen/buecherberge.