Matterhorn Stories

Vom 11. Juli bis 28. Oktober 2018 zeigt das Alpine Museum der Schweiz auf dem Gornergrat ob Zermatt „Matterhorn Stories. Eine Ausstellung über den grössten Bücher-Berg“. Auf der Fahrt dorthin könnten wir einen alten und doch höchst aktuellen Bergtourismusroman lesen, darin das Matterhorn selbstverständlich auch seinen Auftritt hat: „Tartarin in den Alpen.“

«Die Schweiz, Herr Tartarin, ist gegenwärtig nur noch ein grosser vom Juni bis zum Oktober geöffneter Kursaal, ein Panorama-Casino, wohin man aus allen vier Himmelsrichtungen zu seiner Zerstreuung sich begibt, und das von einer ungeheuer reichen Compagnie mit hundert Millionen Milliarden ausgebeutet wird. Ein wahres Heidengeld hat es natürlich gebraucht, um dieses ganze Gebiet, Seen, Wälder, Berge und Wasserfälle zu pachten, sauber auszuputzen und zu schmücken, um ein ganzes Volk von Angestellten und Statisten zu besolden, und auf schwindelnder Höhe glänzende Hotels mit Gas, Telegraph, Telephon zu erbauen….

– Das ist wirklich wahr.

– Na, ob! Aber, Sie haben noch gar nichts gesehen…. Gehen Sie etwas weiter ins Land hinein, Sie finden da nicht einen Winkel, der nicht wie die Versenkungsräume des Opernhauses seine Kniffe und Maschinen-Geheimnisse hätte: Wasserfälle taghell beleuchtet, Drehkreuze am Eingang zu den Gletschern, und bis auf die höchsten Gipfel eine Menge hydraulischer oder Zahnradbahnen. Immerhin, aus Rücksicht auf die englische Kundschaft und amerikanische Kletterer, bewahrt die Compagnie einigen berühmten Alpengipfeln, wie Jungfrau, Mönch und Finsteraarhorn, ihr gefahrvolles, wildes Aussehen, obgleich da nicht mehr zu riskieren ist als anderwärts.

– Nicht möglich! Und die Spalten, mein Lieber, die schrecklichen Gletscherspalten! Wenn Sie da hineinfallen?

– Sie fallen auf Schnee, Herr Tartarin, und Sie tun sich nicht sehr weh. Unten, in der Tiefe, steht immer ein Portier, ein Jäger, irgend Jemand da, der Sie aufhebt, Sie abbürstet, schüttelt und höflichst sich erkundigt: «Haben der Herr auch Gepäck?»

– Na, na, na…. Was schwatzen Sie da, Gonzague?

– Der Unterhalt dieser Gletscherspalten ist eine der grössten Ausgaben der Compagnie.

– Mag sein, mein lieber Freund, aber wie erklären Sie sich die entsetzlichen Katastrophen? Die vom Matterhorn zum Beispiel?

– Das ist schon sechszehn Jahre her, die Compagnie existierte damals noch nicht, Herr Tartarin.

– Aber noch letztes Jahr der Unfall auf dem Wetterhorn, die beiden Führer mit den Reisenden verschüttet!

– Das gehört leider auch dazu, um die Bergsteiger anzulocken… Einen Berg, auf dem sich noch niemand fast mehr oder weniger Genick gebrochen, sehen die Engländer nicht für voll an… Das Wetterhorn verlor seit einiger Zeit an Ansehen. Nach dem kleinen Unfall, von dem alle Blätter berichteten, stiegen auch da wieder die Einnahmen.

– Und die beiden Führer?

– Befinden sich wohl und munter wie die Touristen. Man hat sie nur verschwinden lassen, auf ein halbes Jahr ins Ausland geschickt… eine kostspielige Reklame, aber die Compagnie ist reich genug, um sich das leisten zu können.»

Mon Dieu! Was für ein Gespräch über den (Berg)-Tourismus in der Schweiz zwischen dem südfranzösischen Möchtegernalpinisten Tartarin und seinem zeitweiligen Gefährten Gonzague Bompard. Nachzulesen im vierten und fünften Kapitel des humoristisch-authentischen Bergromans „Tartarin dans les Alpes“ von Alphonse Daudet, erstmals 1872 in Buchform erschienen und seither zu Recht immer wieder und in verschiedenen Sprachen aufgelegt. Matterhorn oder Wetterhorn will der Romanheld nicht besteigen, ihn lockt die Jungfrau und dann noch der Mont Blanc. Wo es zum Unglück kommt – was wäre schliesslich ein Bergroman ohne solches (und ohne Liebesgeschichte)? Nochmals Originalton Daudet: „In dem Hotel in Courmayeur, in welchem Tartarin Unterkunft fand, war von nichts anderem die Rede als von einer fürchterlichen Katastrophe auf dem Mont Blanc, die ganz und gar an das Unglück auf dem Matterhorn erinnerte. Wieder ein Alpinist, der infolge Durchschneidens des Seiles in den Abgrund gestürzt war.“

Bezeichnend, dass in einem Bergroman immer wieder auf die Katastrophe am Matterhorn bei der ersten Besteigung vom 14. Juli 1865 erinnert wird, als nur drei der sieben Erstbesteiger heil zurückfanden. Triumph und Tragödie, Sieg und Niederlage, Freund- und Feindschaft, Verrat und Verdächtigungen, Egoismus und Nationalismus, ein (vielleicht absichtlich) gerissenes Seil und eine verschwundene Leiche: Wenn das keine Geschichte hergibt, was dann? Ein gutes Dutzend der über 70 belletristischen, poetischen und dramatischen Werke, die sich mehr oder minder dem Matterhorn widmen, befassen sich eingehend mit der Erstbesteigung.

Gestern nun wurde auf dem Gornergrat oben der dritte Pop-Up-Auftritt des Alpinen Museums der Schweiz gestartet: „Matterhorn Stories. Eine Ausstellung über den grössten Bücher-Berg.“ Im zeltähnlichen Shelter – 2017 diente er als Essraum, als die Hörnlihütte umgebaut wurde – zeigt das alps eine schlüssige Auswahl aus der gipfelhohen Matterhornliteratur. Jedes der über 30 ausgestellten Bücher wird von einem kurzen Zitat (Originalsprache und Englisch) begleitet. Als Führer bei der literarischen Matterhornbesteigung dient Carl Haensels Tatsachenroman „Der Kampf ums Matterhorn“, der 300‘000-mal verkauft, einmal in einem SJW-Heft verkürzt, achtmal übersetzt und ein paar Mal verfilmt wurde.

Während der Ausstellung findet ein Kürzestgeschichten-Wettbewerb statt. Das Alpine Museum sucht die besten Matterhorn-Stories von Gornergrat-Gästen. Die Geschichten können in der Ausstellung oben geschrieben oder auch per E-Mail nachgereicht werden. Zu gewinnen gibt es jeweils einen Preis für die beste Monats-Story und zum Projektende einen Hauptpreis für zwei Personen im 3100 Kulmhotel Gornergrat. Tartarin würde nochmals staunen.

Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen. Die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten. AS Verlag, Zürich 2011, Fr. 29.80, www.as-verlag.ch

Matterhorn Stories. Eine Ausstellung über den grössten Bücher-Berg. Auf dem Gornergrat ob Zermatt vom 11. Juli bis 28. Oktober 2018, www.alpinesmuseum.ch

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