Nicolas de Staël

Grossartige Gemälde mit Meer und Bergen: jetzt nach Lausanne, später mal nach Antibes.

«Bei den Remparts in der Altstadt von Antibes gehe ich nicht zum Strandtor – man käme nicht weiter –, sondern steige hoch auf die Umfriedungsstrasse auf der Mauer oben zwischen Meer und Stadt. Am ersten Hau entdecke ich zufällig die Erinnerungstafel für Nicolas de Staël, französisch und russisch. Er lebte in diesem Haus und stürzte sich am 16.3.1955 vom Balkon oben hinab.»

Eintrag vom 7. Februar 2017 im 33. Tourenbuch von Daniel Anker zur Küstenwanderung von Nizza nach Antibes, inkl. Besteigung der Anhöhe Notre Dame de Bon Port de la Garoupe (75 m) auf dem Cap d’Antibes. Ich wusste schon, dass sich Nicolas de Staël, einer meiner Lieblingsmaler, in Antibes das Leben genommen hatte. Aber wenn man dann in dieser Strasse steht, in der er tot lag, und hinaufschaut zur Terrasse seines Ateliers, von wo er gesprungen ist, dann ist das ein ziemlicher Schock. Nun ist das Werk des französischen Malers russisch-baltischer Herkunft (1914–1955) in einer grossartigen Retrospektive in der Formation de l’Hermitage hoch oberhalb der Altstadt von Lausanne zu bewundern.

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, darin sehr viele der einzigartigen Gemälde und Zeichnungen von Nicolas de Staël abgebildet sind. Und auch ein Foto der Terrasse des Ateliers, mit Blick aufs Meer und das Cap d’Antibes. Diese Sicht hat de Staël immer wieder festgehalten, zum Beispiel in „Le Fort Carré d’Antibes“, einem fast zwei Meter breiten Ölgemälde, das im Musée Picasso in Antibes zu sehen ist, oder im kleinformatigen „Le Bateau“ ebenfalls von 1955, darauf ein dick aufgetragenes rotes Rechteck inmitten grau-blau-schwarz-weisser Farbschichten hervorsticht. Ein solcher roter Farbfleck findet sich auch auf „Pont de Bercy“ von 1939, das den Anfang der Ausstellung in der Fondation macht.

Farben, Farbschichten, abstrakt oder später immer mehr figurativ: Nicolas de Staël setzte in seiner Kunst neue, bis heute überraschende und überzeugende Akzente in Farbe. 1934 weilte er in den Bergen oberhalb Grenoble und schrieb seiner Adoptivmutter: „Imaginez une ferme à mi-pente d’une montagne, grands toits gris-rouge, petites fenêtres, la vigne y grimpe n’importe comment et tout autour, les Alpes avec le vent. Vers le couchant un pic couvre d’une ombre verte ou noire l’avant-plan du tableau. De-ci de-là des masses grises peu éclairées. Puis très loin, en face de nous un massif puissant et rocailleux en pleine lumière – radieux. Il semble un diamant aux mille couleurs fortement encastré dans le vieil or des blés qui ornent la vallée.“ Was er da sah und beschrieb, das malte de Staël in seinem Leben. Nicht Berge, aber Landschaften und Städte am Meer. So Agrigento in Sizilien – atemberaubend die Gemälde, die in der Hermitage hängen. Die Tochter Anne de Staël sagt im Interview im Ausstellungskatalog von ihrem Vater: „Son regard pouvait conduire les choses à leur idéal. Agrigente, c’est pareil. C’est l’abîme, c’est l’horizon, il n’y a presque rien, il y a une chute de lumière. C’est là la forme d’imagination visuelle de ce peintre.“

Also, nicht zögern: auf nach Lausanne! Und wenn wir schon dort sind, könnten wir noch das neue Musée cantonal des Beaux-Arts ein paar Schritte westlich des Bahnhofs besuchen. Im zweiten Raum im ersten Stock sind drei grossformatige Gemälde zu entdecken – Ikonen der Bergmalerei: „Le glacier de Rosenlaui“ (1841) von François Diday, „Taureau dans les Alpes“ (1884) von Eugène Burnand und „Lioba! Berger de l’Oberland bernois rappelant son troupeau“ (1886) von Auguste Baud-Bovy. Vor allem der Stier ist eine echte Wucht: Stehen wir direkt vor ihm, sind wir irgendwie froh, dass er gemalt ist.

Noch ein zweiter Hinweis auf Bergmalerei: Der Katalog „Peaks & Glaciers 2024“ von John Mitchel Fine Paintings ist da. Wie immer sind wunderbare Berggemälde zu sehen (und vielleicht zu kaufen). Mehrere Werke stammen von Charles-Henri Contencin (1898–1955) und Angelo Abrate (1900–1985): Ihre „The Wetterhorn in Winter“ bzw. „The Lac de Goillet and the Cervino“ würde ich sofort aufhängen. Einen de Staël selbstverständlich ebenfalls.

Apropos Nicolas: Sein letztes Gemälde, „Le Concert“, unglaubliche dreieinhalb auf sechs Meter gross, hängt im Musée Picasso in Antibes. Am 16. März 1955 schrieb er dem Kunsthändler Jacques Dubourg: „Je n’ai pas la force de parachever mes tableaux. Merci pour tout ce que vous avez fait pour moi. De tout cœur. Nicolas.“

Weilt man in Antibes, sollte man dieses Museum unbedingt besuchen. Das machte ich am 10. Februar 2017, nach der Wanderung von Cannes her, immer am Meer entlang. Den Aufstieg zum Caroupe-Hügel liess ich diesmal aus. Den Blick über die Baie des Anges hinweg auf die weissen Alpes Maritimes hatte ich noch gut vor Augen. Auch die eine Votiftafel drinnen in der Église Notre-Dame: Sie zeigt einen im März 1865 von einer Leiter stürzenden Mann.

Nicolas de Staël. Sous la direction de Charlotte Barat et Pierre Wat. Fondation de l’Hermitage, Lausanne 2024. Fr. 58.-
Die Ausstellung Nicolas de Staël in der Fondation de l’Hermitage in Lausanne ist noch bis 9. Juni 2024 zu sehen; alle weiteren Infoshier https://fondation-hermitage.ch/ . In der Buchhandlung liegen zahlreiche weitere Publikationen zu de Staël auf.

Musée cantonal des Beaux-Arts à Lausanne; www.mcba.ch

Peaks & Glaciers 2024, John Mitchel Fine Paintings; www.johnmitchell.net

Alle «Bücher der Woche» unter: www.bergliteratur.ch

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