Schweizer Geschichte flüssig: Hier geht es ums Flössen und Flösser auf Gebirgsbächen und Flüssen, aber auch um Galeeren, Einbäume, Kriegsschiffe und schöne Schifferinnen auf Touristenboten. Also Ruder statt Helebarden, Segel statt Spiesse. Ein erfrischendes Buch nach all dem Marignano- und Morgartenrummel.
„Der Strom, welcher in der zweyhundertschuh tiefen Ferne schäumend in der Dunkelheit wühlt, ist kein andrer als die Lint, welche sich aus dem Sandbach und Limmernbach nicht weit von hier im Gebürg gesammelt hat. Seit Jahrtausendern rauschte sie dort, und zeigt an den ausgereiften, angefressnen Felsgeschieben, dass sie ihr Bett in dem harten Gestein immer tiefer höhlet. Man hatte uns vorher schon im Walde gesagt, dass wir ein Schauspiel erblicken würden, welches sehr selten wäre – nämlich das Holzflössen. Ich hatte von diesem Geschäft so wenig Aussenordentliches erwartet, dass ich daran gar nicht mehr dachte.“
So schildert Heinrich Zchokke (1771–1848), in der Schweiz eingebürgerter deutscher Schriftsteller und Pädagoge, in „Die Wallfahrt nach Paris“ die Pantenbrücke südlich von Tierfehd im Glarnerland. Seine Reisebeschreibung erschien in zwei Bänden 1796 und 1797 in Zürich. Die Brücke über die tiefe Linthschlucht ist alleine schon eine Sehenswürdigkeit, aber das Schauspiel, das der Reisende vor über 200 Jahren erlebte, überbot jede Vorstellung. Denn in der Schluchttiefe arbeiteten die Schwemmholzarbeiter, die mit langen Flösshaken die daherschiessenden Holzstämme so richteten, dass sich diese nicht in der Enge verkeilten, sondern mit dem Wasser weiter flussabwärts flossen. Eine höchste gefährliche Arbeit. Und um einiges weniger romantisch als die Flösserei, wie sie wenigstens Hermann Hesse 1827 an der Nagold in seinem württembergischen Geburtsort Calw erlebte. „Weit öfter, als mein guter Vater ahnte, bin ich als kleiner Bub für kurze Strecken blinder Passagier auf einem Floss gewesen. Es war streng verboten, man hatte nicht nur die Erzieher und die Polizei gegen sich, sondern meistens auch die Flösser. Schöneres und Spannenderes gibt es für einen Knaben nicht auf der Welt als eine Flossfahrt.“
Beide Passagen aus der schönen Literatur finden sich in einem neuen Buch zur Schweizer Verkehrsgeschichte auf dem Wasser, die Daniel L. Vischer, Professor Emeritus für Wasserbau an der ETH Zürich, verfasst hat. In „Schiffe, Flösse und Schwemmholz“ schildert er, wie wichtig und vielbenutzt die Wasserstrassen hierzulande waren, Bergflüsse wie die Lindt so gut wie der Zürichsee: dort nur einzelne Baumstämme, da diese dann zusammengebunden als Floss, oder schon zu einem Lastschiff weiterverarbeitet. Auf 352 Seiten und mit 150 farbigen und schwarz-weissen Abbildungen stellt der Autor all die Ruder- und Segelschiffe vor, die einst auf helvetischen Gewässern bewegt wurden, Einbäume und Galeeren, Kriegsschiffe sowie Touristenboote, die von schönen Schifferinnen gerudert wurden. Den Anfängen des Dampfzeitalters ist ein eigenes Kapitel gewidmet, den Spezialschiffen wie Flussfähren und Waschschiffen ebenfalls. Und ausführlich geht Vischer auf die Geschichte des Flössens und Schwemmens ein, so auf die Flösserei auf dem Alpenrhein oder die Schwemmkanäle in Basel. Da wird eine Schweizer Geschichte flüssig, die bisher vertrocknet da lag. Vom Schwallbetrieb auf der Aare hatte ich bisher noch nie etwas gehört, ich kannte eigentlich nur die Menschen, die sich im Sommer, wenn der Fluss 20° und wärmer ist, freiwillig treiben lassen, mit oder ohne aufgeblasene Hilfsmittel. Schwemmkörper der etwas anderen Art.
Ein eindrückliches Zeugnis, welche Folgen ein Schwemmbetrieb haben konnte, findet sich in der Valle di Campo, einem Seitental des Maggiatales. Dort wurde der Hangfuss der Sonnenterrassen, auf denen die beiden obersten Dörfer Campo und Cimalmotto liegen, 1857 aufs Gröbste beschädigt, als die Holzarbeiter alle drei Sperren aufs Mal sprengten, um die Stämme mit einer Sturzflut in die Vallemaggia hinunterzuschwemmen. Deshalb wurde zwei Jahre später die 1851 aufgenommene Transportart von Holzstämmen verboten. Die Dorfbewohner hatten das Holzgeld – und den doppelten Schaden: Der Wald, der Hochwasser in diesem sehr niederschlagsreichen Gebiet bändigte, war weg, und der Erdrutsch war da. In 100 Jahren verschob sich die Kirche von Campo 30 Meter horizontal und sechs Meter vertikal. Erst der millionenteure Entwässerungsstollen vermochte das scheinbar unaufhaltsame Abrutschen der Siedlungen zu stoppen: Südlich von Cimalmotto verschwindet die Rovana in einem anderthalb Kilometer langen Tunnel und fliesst gegenüber von Piano di Campo zurück ins alte Bett. So büsst der Bergbach seine Erosionskraft ein und donnert zudem nicht plötzlich als Sturzflut hinunter, falls er durch einen Teil des Erdrutsches von Campo vorübergehend gestaut würde.
Das Leben im Tal unten hat auch mit dem Überleben im Gebirge oben zu tun.
Daniel L. Vischer: Schiffe, Flösse und Schwemmholz. Unterwegs auf Schweizer Gewässern. Eine Technikgeschichte. Hier und Jetzt Verlag, Baden 2015, Fr. 59.-