Top of London

«Schickt einen Philosophen nach London», schrieb Heinrich Heine 1827 – es lohnt sich aber auch heute noch und Philosoph muss man nicht unbedingt sein. Unser Rezensent hat sich aufgemacht, die Strassen der Stadt durchstreift, den wichtigsten Hügel der Welt erklommen und in der schönsten Buchhandlung Londons überraschende Funde gemacht.

„Then there was nothing to do but go for a walk.“

Wo auch immer: To go for a walk ist eine gute Idee. Genau heute vor einer Woche spazierten wir auf den Greenwich Hill (47 m) in London, den vielleicht wichtigsten Hügel der Welt. Dort oben befindet sich das Royal Observatory, und die Meridianlinie, der Längengrad 0, verläuft genau durch den Hof der königlichen Sternwarte. Weshalb man mit einem Fuss auf der östlichen Halbkugel und mit dem andern auf der westlichen stehen kann – was denn die Touristen machen und sich dabei fotografieren (lassen). Der Uhrmacher John Harrison präsentierte 1735 einen Chronometer, mit dem sich die Uhrzeit des Heimathafens (also London) mit der jeweiligen Ortszeit vergleichen und so die genaue Position auf der Erdkugel bestimmen liess. Die Weltzeit gibt man seit 1884 in ihren Abweichungen zur Greenwich Mean Time an.

Wir wanderten aber nicht in den Parks, sondern auch in den Strassen von London. Und gelangten so zweimal zum Daunt Bookshop. Der Stammladen dieser Buchhandlung befindet sich seit eduardischer Zeit an der edlen Marylebone Street (Nr. 83) und gilt mit seinem Glasdach als der schönste Bookshop of London. Und der beste in Sachen Reiseliteratur. Mehr noch: Zu einer Region oder einem Land sind nicht nur die Reiseführer und -bücher aufgereiht, sondern belletristische Werke. Bei Switzerland also: Neben Dürrenmatt und Frisch auch Glauser, Stamm, Werner, Chessex sowie Mann („The Magic Mountain“) und Mary Shelley („Frankenstein“). Und mir unbekannte wie „The Zurich Conspiracy“ von Bernadette Calonego oder „The Geneva Option“ von Adam Lebor. Ich kaufte zwei Romane, in denen Berge und Hügel ihren Auftritt haben: „Hotel du Lac“ von Anita Brookner und „Old Enemies“ von Michael Dobbs.

Im Hotel du Lac in einer Kleinstadt am Genfersee – wahrscheinlich ist es Morges – versucht Edith Hope (!) aus London, Verfasserin romantischer Romane, ihr aus den Fugen geratenes Leben in den Griff zu bekommen, mit langen Spaziergängen, Gesprächen, Überlegungen und Briefen an ihren verheirateten Liebhaber zu Hause. Sie lernt einen Engländer kennen, der ihr in Ouchy einen Heiratsantrag macht. Wie im berühmtesten Liebes- und Briefroman, der den Genfersee als Hintergrund hat, in „Julie ou La nouvelle Héloïse“ von Jean-Jacques Rousseau aus dem Jahre 1761, spielt die Landschaft in der Gefühlswelt der Helden nur eine untergeordnete Rolle. Doch der See und seine Berge sind immer wieder greifbar. Kapitel 7, worin Philip Neville seine neue Bekanntschaft in die Rebberge von La Côte entführt, beginnt so: „‘One hardly notices the proximity of the glaciers,‘ said Edith appreciatively.“ Fast so kühl wie die Gletscher bleibt (leider) auch dieser Walk. “Hotel du Lac” erschien 1984 und gewann den Booker Prize. 1986 kam die deutsche Ausgabe heraus, im gleichen Jahr zeigte BBC die Verfilmung. Anita Brookner ist auch erwähnt in „Walking literary London“ von Roger Tagholm.

Mit sehr viel Action wartet Michael Dobbs in seinem 2011 erschienenen Thriller „Old Enemies“ auf. Der Prolog startet in Villars-sur-Ollon in den Waadtländer Alpen mit einem Heliflug zum Skifahren, der für drei der sechs Insassen allerdings tödlich endet, da sich unter ihnen auch zwei Verbrecher befinden, die den jungen Ruari Breslin entführen, um seinen mächtigen Vater zu erpressen: Zuerst um die geheimen Tagebücher von Nelson Mandela, dann nur noch um eine horrende Summe. Schauplatz der mörderischen Geschichte mit Seriendetektiv Harry Jones ist vor allem Triest mit seinem gebirgig-karstigen Hinterland sowie London, of course. Natürlich gibt es auch mindestens eine Liebesgeschichte – was wäre ein Roman ohne diese?

Und was wäre eine Wanderung ohne Bücher?

Anita Brookner: Hotel du Lac, 1984. Deutsch auf www.zvab.com erhältlich.
Michael Doobs: Old Enemies, 2011.
Roger Tagholm: Walking literary London. 25 original walks through London’s literary heritage, 2012.
Daunt Booshop: www.dauntbooks.co.uk

Und die Redaktion empfiehlt: Zopfis Tagebuch Lond-on-Line.

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