Vom Gehen und Bleiben

Fünf neue belletristische Werke, in denen sich immer wieder und unterschiedlich die Frage stellt: gehen oder bleiben bzw. weichen.

«Links hoch geht ein Wanderpfad, der im Schnee fast nicht zu erkennen ist. Ein knallgelbes Schild vor dem schneedüsteren Himmel zeigt an, dass man in zwei Stunden zum Gipfel kommt. Unterhalb davon am Pfahl ein laminierter Zettel auf Holz: Allgemeines Betretungsverbot! Akute Stein- und Blockschlaggefahr! Um es noch deutlicher zu machen, ist auf der anderen Seite des Pfads ein Pflock eingehauen und quer eine Kette gespannt. Sie stapft über die verschneite Wiese und beginnt zu klettern.»

Ob das gut kommt, wenn die junge Johanna aus Deutschland, die vor kurzem mit ihren Eltern ins fiktive Bergdorf Vischnanca im Bündnerland gezogen ist, die Wegsperrung ignoriert und erst noch im Winter zum Piz Brunclia hochsteigen will, zu diesem Berg, der unaufhaltsam gegen das Dorf rutscht? Natürlich nicht! Aber Johanna – sie ist eine der Kapitelfiguren im Roman „Von Gehen und Bleiben“ von Petra Hucke – will diesen Schicksalsberg aus der Nähe kennenlernen, der alles durcheinander bringt, geologische, gesellschaftliche und soziale Gefüge, diese abrutschende Masse aus Gestein und Schutt, die Einheimische und Zugewanderte gleichermassen verzweifeln und hoffen lässt. Der Berg muss sich nicht entscheiden, ob er bleibt oder geht – er kommt einfach. Petra Hucke, Autorin und Übersetzerin in München, hat das (Über)leben des Dorfes Brienz/Brinzauls im Albulatal, das vom dortigen Piz Linard, bedroht wird, in einen vielschichtigen, wegweisenden und stabilen Roman gepackt. Zu lesen in Brienz, aber eher im Berner Brienz am gleichnamigen See, weil dort die Unterkünfte vielfältig, während sie im Bündner rar bis nicht vorhanden sind.

«In unbeschreiblicher Erleichterung, fast ein Wunder, hebe ich den Blick und entdecke einen riesigen, gelben, von gut beratenen Bergführern direkt auf den Felsen gemalten Pfeil, von einem auf zwei Metern, der die Richtung zum Pass anzeigt. Ich habe ihn beim Abstieg übersehen.»

Nicht auf direktem Weg gelangt der Ich-Erzähler in „Rosablanche“ zum Ziel, nämlich zum Gipfel (3336 m) gleichen Namens in den westlichen Walliser Alpen, mit einer Übernachtung im Refuge-Igloo des Pantalons Blancs (3280 m). Die Höhenzahlen sind wichtig in dieser 2018 in den Éditions des sauvages erstmals erschienen Erzählung des Waadtländer Grafikdesigners Matias Jolliet; sie gliedern den Text, der zwischen alpinistischem Jargon und alpinem Pathos hin und her schwankt wie der Erzähler unter dem Gewicht seines übervollen Rucksacks und unter seiner Unerfahrenheit im Gebirge. Zu lesen selbstverständlich in dieser Biwakschachtel, die einem Iglu oder einer Jurte gleicht, oder in einer der fünf Hütte rund um die Rosablanche. Reservieren nicht vergessen, dort wo es möglich ist!

«Den Weg zurück ins Tal nahm ich dem Bach entlang. Da und dort wasserhelle Tiefe, dann wieder trotziges, talwärts stürzendes Schäumen. Die Sonne schien, es war schwül.»

Ob der Weg markiert ist, verrät uns Lisa Elsässer in ihrem gut 100-seitigen, stimmungsgenauen Werk „Im Tal“ nicht. Ist ja auch nicht wichtig: Entlang einem Bach kommen wir meistens zurück in die Niederungen. Eigentlich möchte die Frau – im ersten Teil des Buches ein Ich, im zweiten eine Sie – in der Hütten oben im Seitental bleiben, zu sich kommen, Brief an Karl und Leo schreiben, in den Bergsee tauchen. Und vor allem die Gesellschaft des Bauern geniessen, der ihr die Hütte vermietet hat und der sie zuweilen besuchen kommt. Gehen oder bleiben – eine Frage, die sich dann stellt, wenn die Flasche Wein leer ist. Schön wäre es jetzt, bei dieser Mordshitze, in eine solche Bleibe hinaufzugehen und sich in einem Bergsee oder -bach abzukühlen, am besten im Urnerland, denn von dort kommt die Autorin. Wie wär’s mit dem Gasthaus Alpenblick am Arnisee? Oder – der Name sagt es ja – mit der Bergseehütte über dem Göscheneralpsee? Der Roman passt locker noch in den Rucksack.

«Ausgerechnet du willst nach Schweden. Gibt es da überhaupt Berge? Bleib lieber im Tal und schau, dass es so bleibt und nicht durch diese Straße verschandelt wird.»

Sagt Fredy zum Zimmermann Reto aus der Lenk ganz hinten im Simmental, dort, wo die geplante Nationalstrasse im Rawiltunnel Richtung Wallis hätte verschwinden sollen. Die Strasse wurde nicht gebaut, weil ein Sondierstollen Risse an der Staumauer des Lac de Rawil verursacht hatte. Der Roman „Wildstrubel“ des Basellandschäftlers Christoph Frommherz spielt anfangs der 1970er Jahre, und damals erhitzte die Simmental-Autobahn noch mächtig Einheimische und Zugewandte. Der (einfluss-)reiche Vater von Fredy zum Beispiel ist für die Strasse, wäre allerdings ganz gegen die Liebe seiner noch nicht zwanzigjährigen Tochter Anna zum Reto aus armem Haus, wenn er davon Kenntnis hätte. Hat er nicht. Auch nicht davon, dass Anna, die ein Welschlandjahr absolviert, gar noch in andere Umstände geraten ist. Reto ist, obwohl ihm dies von den Strassenbefürwortern angekreidet wird, kein Schürzenjäger; allerdings gefällt ihm die Regula, die Servierkraft von der Iffigenalp, schon auch ganz gut. Zum Glück locken da die Gipfel der Simmentaler Berge – und eine Arbeitsstelle in Schweden. Ob Reto dorthin geht? Selber erfahren in der Wildstrubel- oder in der Flueseelihütte. Ein richtiger Bergroman à la Ludwig Ganghofer ist „Wildstrubel“; jedoch überhaupt kein „Bergkrimi“, wie es im Untertitel heisst.

«Sie stand einen Moment still. Dann ging sie weiter bis zu einem Holzpfahl, der vor dem Anstieg zum Gletscher die letzte Etappe markierte. Sie stellte den Rucksack auf eine flache Steinplatte, auf eine aufgemalte Wegmarkierung.»

Gehen und/oder bleiben, zum fünften Mal. Zum dritten Mal mit einem rund 100-seitigen Buch. Diesmal von der im Walliser lebenden Bernerin Marianne Künzle. „Da hinauf“ handelt vom Schicksal zweier Frauen, Irma von einst und Annina von heute. Sie gehen auf den Gletscher, aus unterschiedlichen Gründen, aber mit dem gleichen Ziel: Antworten zu finden auf schwierige Fragen des Lebens. Vielleicht auch nur Ablenkung. Oder die Herausforderung, wie weit zu gehen ist. Und wann es besser ist, zu bleiben. Auf dem gefährlichen des scheinbar ewigen Eises. Ein dichtes Werk, zwei Geschichten, die sich miteinander verflechten, bis zum – verrate ich doch nicht. Ebenfalls selber lesen, am sichersten in der Nähe eines harmlosen Gletschers, in einer vorzüglichen Unterkunft mit Liegestühlen am Schatten und Blick auf Eis, im Glas und im Gelände. Vielen Dank im Voraus für einen Tipp!

Petra Hucke: Vom Gehen und Bleiben. Fischer Krüger Verlag, Frankfurt aM 2022, € 20,00.

Matias Jolliet: Rosablanche. Edition Bücherlese, Luzern 2022. Fr. 26.00.

Lisa Elsässer: Im Tal. Edition Bücherlese, Luzern 2022. Fr. 26.00.

Christoph Frommherz: Wildstrubel. Gmeiner Verlag, Meßkirch 2022. € 15,00.

Marianne Künzle: Da hinauf. Nagel & Kimche, Zürich 2022. € 18,00.

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