Im Juli beginnt die Saison des Wildheuens. Das beste Buch dazu erschien im Oktober 2022 und ist seit dem März 2023 leider vergriffen.
Rudolf der Harras:
Wer seid Ihr? Wer ist Euer Mann?
Armgard:
Ein armer
Wildheuer, guter Herr, vom Rigiberge,
Der überm Abgrund weg das freie Gras
Abmähet von den schroffen Felsenwänden,
Wohin das Vieh sich nicht getraut zu steigen –
Rudolf der Harras zum Landvogt:
Bei Gott, ein elend und erbärmlich Leben!
Kurzer Dialog in der berühmtesten Gasse der Schweiz, zwischen der Bäuerin Armgard, deren Mann (zu Unrecht) im Gefängnis sitzt und deren Freilassung sie fordert, und dem Stallmeister von Hermann Geßler, dem Reichsvogt in Schwyz und Uri. Es die dritte Szene im vierten Aufzug, sie spielt in der hohlen Gasse bei Küssnacht am Rigi. Geßler geht nicht auf den Wunsch von Armgard ein, kann aber auch nicht weiterreiten, da sie sich in den schmalen Weg geworfen hat und ihr Schicksal beklagt: „O ich bin nur ein Weib! Wär‘ ich ein Mann, ich wüsste wohl was Besseres, als hier im Staub zu liegen –.“ In der Nähe aber steht ein solcher Mann. Er spannt seine Armbrust – und schiesst. Sein Name: Wilhelm Tell.
Ein indirektes Zusammentreffen zweier urschweizerischer Helden im 1804 uraufgeführten Schauspiel von Friedrich Schiller. Hier der bekannte Freiheitsheld, der, wenn es sein muss, nicht nur wilde Tiere trifft. Dort der arme Wildheuer, der sein Leben in stotzigen Hängen auf der Suche nach Gras riskiert, um das Vieh durch den Winter zu bringen und die Familie zu ernähren. „Wenn der Gämsjäger für Freiheit und Wagemut steht, so symbolisiert der Wildheuer Überlebenswillen und Tapferkeit.“
Lesen wir im Buch „Wildiheiw. Wildheuen in Nidwalden“ von Elsbeth Flüeler. Lassen wir die Nidwaldnerin, Geografin und Journalistin gleich selbst ihr jüngstes Werk vorstellen; im Oktober 2022 schrieb sie mir: „Es ist ein umfassendes Werk, 296 Seiten stark mit Dutzenden Geschichten über das Wildheuen, darüber, wie es überhaupt dazu kam, dass die Leute in die Planggen steigen; es bricht mit dem Mythos des armen Wildheuers und erzählt stattdessen vom ökonomischen Stellenwert des Wildheus; es schreibt eine Landschafts- und Landwirtschaftsgeschichte Nidwaldens und beschreibt, wie die Wildheuer heute das Wildheuen leben, dass es für sie weit mehr ist als eine Tradition, nämlich eine Kultur. Sieben Jahre habe ich an dem Buch gearbeitet, im Winter um die 100 Wildheuer befragt, in den Archiven der Korporationen und Gemeinalpen geforscht, die Planggen kartiert und im Sommer in den Planggen geholfen. Dabei habe ich, das hat mich sehr gefreut, eine achtsame Landwirtschaft entdeckt, eine die dem Boden Sorge trägt, das Heu wertschätzt und es gezielt einzusetzen weiss.“
Und Elsbeth fragte mich noch, ob ich Interesse hätte, ihr Buch als Ankers Buch der Woche vorzustellen. Aber sicher, antwortete ich. Bloss gab es da noch andere Bergbücher zum Besprechen. Ich nahm mir aber vor, „Wildiheiw“ im Sommer 2023 zu bringen, wenn die mutigen NidwaldnerInnen wieder in die schroffen Graswände steigen, mit der Sense, ja manchmal gar mit einem Stollenmäher, das Gras mähen und dann das Heu, zusammengebunden in Burdene, an einem Drahtseil ins Tal sausen lassen. Doch Mitte März erhielt ich von Elsbeth folgendes Mail: „Ich wollte dich nur informieren, dass mein Buch eigentlich ausverkauft ist. Vielleicht hat es aber da und dort noch ein Exemplar. Eine 2. Auflage wird es nicht geben, dazu müsste ich wieder Geld suchen. Es ist nun halt einfach ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Nidwaldens.“
Es ist mehr, viel mehr. Erstens wird nicht nur in Nidwalden wild geheuet, sondern auch anderswo in den (Schweizer) Alpen, zum Beispiel im schwyzerischen Muotatal. Zweitens erfahren wir halmgenau, wie das Wildheuen entstanden ist und immer noch mit viel Passion ausgeübt wird. Und drittens ist „Wildiheiw“ ein ganz starkes Bergbuch mit klugen, spannenden Texten (auch wenn man sich in den Nidwaldner Dialekt etwas einlesen muss) und mit eindrucksvollen Farbfotos von Severin Nowacki. Nur ist das Buch vergriffen, doch die Buchhandlung von Matt in Stans hat noch einen Restbestand von rund 40 Exemplaren. Und in Bibliotheken liegt es selbstverständlich auch auf. Der Tell aber lässt sich bequem im Netz lesen, www.projekt-gutenberg.org/schiller/tell/titlepage.html.
Elsbeth Flüeler: Wildiheiw. Wildheuen in Nidwalden. Mit Fotografien von Severin Nowacki und einer Übersichtskarte über die Planggen. Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2022.
Schön, als Bub war ich auch im Wildheu. Riedstöckli Braunwald.