Auf den längsten Tag des Jahres am 21. Juni 2023 folgt die kürzeste Nacht. Grund genug, ein paar helle Stunden mit dunklen Geschichten zu verbringen.
Katharina deutete auf die Abzweigung. «Hier geht es zum Zinken. Aber es ist schon fast dunkel, und wir haben noch ein paar ziemlich knifflige Abschnitte vor uns. Deshalb lassen wir den Abstecher lieber aus», bemerkte sie zu Katharina und mit einem Blick auf die Armbanduhr. «Demnächst wird der Pfad schwieriger und exponierter. Schalte besser deine Stirnlampe ein und schau dir genau an, wo du hintrittst.»
Müssen wir immer, bei Tag und Nacht. Aber wenn das Licht schwindet, müssen wir noch ein wenig besser hinschauen, wo wir hintreten. Sonst könnte ein falscher Tritt der letzte sein. Allerdings: Heute Mittwoch, 21. Juni 2023, haben wir am längsten Licht. Und dann folgt die kürzeste Nacht des Jahres. Hier ein paar Lektüretipps für lange Tage.
Das obige Zitat stammt aus dem Allgäu-Krimi „Johannifeuer“ von Hans Compter. Die Ärztin Katharina Schiller untersucht mit der Rechtsmedizinerin Madeleine Wüsthoff einen Fall, der 15 Jahre zurückliegt. An einer Johannifeier zur Sommersonnenwende geschah in einer Alphütte, wohin sich Männer und Frauen vor einem bösen Gewitter retteten, ein furchtbares Verbrechen, die Schuldigen kamen ungeschoren davon. Doch nun wird Rache genommen. Im Mittelteil ist der Krimi etwas langatmig, doch gegen den Schluss und insbesondere am Ende wird er atemberaubend. Nichts für schwache Nerven und Lichtquellen.
Nach dem Essen trieb Giulias innere Unruhe sie wieder nach draußen. In Chur wäre sie eine Runde joggen gegangen. Die Dunkelheit hatte fast jedes Licht aus der Passanhöhe gesaugt. Nur die schneebedeckten Gipfel hoben sich vom dunklen Himmel ab. Ihr offenes Haar wehte im kalten Wind, sie schloss ihre Parka bis unters Kinn und zog die Kapuze über.
Als sie sich ein paar hundert Meter vom Kloster entfernt hatte und auf dieses zurückblickte, wurde ihr bewusst, dass sich dieser Anblick schon Menschen vor eintausend Jahren geboten hatte. Der Grosse Sankt Bernhard verinnerlichte zweifellos etwas Ureigenes, das war deutlich spürbar. Während Giulia in dieser unwirklichen Berglandschaft stand und den Anblick in sich aufsog, näherte sich vom Kloster kommend eine dunkle Gestalt.
An sechs Orten spielt „Bündner Sturm“ von Philipp Gurt, der neue Fall für die Churer Alpinpolizistin und Chefermittlerin Giulia de Medici: in Chur natürlich, dann in Pontresina und im Val Roseg (dort gibt der abschmelzende Gletscher die Leiche einer jungen Frau in einem roten Sommerkleid frei), am Zürichsee (mit seiner besseren Gesellschaft), auf dem Etzelpass (so heisst ein Krimi von Silvia Götschi; vgl. https://bergliteratur.ch/moerderische-berge/), in der Ajoie (dieser Zipfel am Nordwestrand der Schweiz wirft sonst kaum belletristische Schatten) sowie auf dem Grand Saint-Bernard. Ob nun die Gestalt, die sich vom Hospiz her Giulia nähert, helle oder dunkle Absichten hat, verrate ich nicht. Selber lesen (Seite 281).
Als Martin aufwachte, herrschte vollkommene Dunkelheit. Er lag nicht bequem, im Schlaf hatte er sich auf die Seite gerollt, dicht an die Zeltwand. Seine Uhr zeigte Viertel vor elf.
«Mark, aufwachen.»
Sein Zeltkamerad regte sich, und allmählich kamen eine Mütze und eine Sauerstoffmaske aus dem Schlafsack zum Vorschein. Mark zog die Maske herunter: «Wir haben schlechtes Wetter bekommen», sagte er.
Das gibt es, und dann wird es ungemütlich. Gerade in einem Zelt. Gerade wenn es so hoch oben steht, dass mit einer Sauerstoffmaske geschlafen wird. Und gerade, wenn sich die Bergsteiger nicht einig sind, über Auf- oder Abbruch. Wer schafft es als Erster bzw. als Erste auf den Gipfel – und wer wieder lebend nach unten? Nicht alle der Hauptfiguren in „Tod am Everest“ von Old Harald Hauge schaffen beides. Da wird eben nicht nur gegen Sauerstoffknappheit und Schlechtwettereinbrüche gekämpft, sondern auch gegen den Zeltnachbarn und die Seilgefährtin. Wir schauern mit, wenn wir den Thriller auf dem sonnenwarmen Balkon lesen, mit Kerzenlicht und einem Glas „Sherpa Everest“ der Domaines Chevaliers in Salgesch.
Ore 00.30
Mezz‘ora dopo la salite divenne un falsopiano. I piedi affondavano nella neve e rendevano la passeggiate ancora più difficoltosa.
Kein Spaziergang, mitten in einer kalten Februarnacht hoch über Aosta durch Schnee zu einem luxuriösen Chalet zu stapfen. Schon gar nicht für Vicequestore Rocco Schiavone, der definitiv lieber in Rom Fälle löste als im Tal mit den höchsten (und schönsten, aber das nur nebenbei) Alpengipfeln. Trotzdem muss Rocco das immer wieder machen, nicht nur in Stadt selbst, sondern auch an den Talhängen, ja manchmal auch in alpinen Hütten. Diesmal ist es ein Stall, der zur feinen Bleibe ausgebaut wurde, auf der „Quota 2.050 s.l.m.“. So heisst der Titel der Krimigeschichte von Antonio Manzini, die im Sammelband „Una notte in giallo“ zu finden ist. Darin gibt es noch weitere nächtliche Stories. Insgesamt 16 Giallo-Sammelbände sind bisher erschienen, immer wieder auch mit Rocco. Zum Krimi sagt man in Italien einfach „il giallo“. Das kommt daher, dass der Verlag Mondadori seit 1929 eine Kriminalromanreihe herausgibt, deren Covers gelb sind. Doch zurück bzw. hinauf zum Chalet auf 2050 Meter über Meer. Dort ist eine Feier ziemlich ausgeartet, fast so schlimm wie in der Alphütte unter dem Spieser (1651 m) im Allgäu.
Hans Compter: Johannifeuer. Ein Allgäu-Krimi. Rother Bergverlag, München 2023. € 14,90.
Philipp Gurt: Bündner Sturm. Ein Fall für Giulia di Medici. Kampa Verlag, Zürich 2023. Fr. 24.90.
Old Harald Hauge: Tod am Everest. Thriller. Benevento, Wals bei Salzburg 2022. Fr. 22.30.
Antonio Manzini: Quota 2.050 s.l.m. In: Una notte in giallo. Sellerio editore, Palermo 2022. € 16,00.