Altherrentreffen im Schnee

Die erste (und vielleicht einzige) Skitour dieses Winters, ein sonniger Tag mit Überraschungen.

Wir finden ja immer eine Ausrede, um die Skiausrüstung im Keller zu lassen. Enkelin hüten, schlechter Schnee, Nebel, Lawinengefahr, Sonne im Süden, perfekt zum Klettern. Wir sind auch langsam zu alt oder zu bequem, um uns mit Skiausrüstung und den dicken Plastikschuhen an den Füssen zum Tram zu schleppen, dann zum Zug, zweimal umsteigen und Postauto und so weiter. Auch bei Skitürelen gilt: der wichtigste Ausrüstungsgegenstand ist das Auto.
Aber diesmal half nichts. Wetter in der Höhe perfekt, unten ein grauer Deckel, eine schöne Schicht Neuschnee gefallen, Lawinenbericht gut – und in der Tiefgarage steht das Auto des Sohnes, der gerade durch Indien reist. Also die Skiroute aufs Laucherenstöckli von map.geo.admin.ch kopiert und dann los!
Den Parkplatz finden wir, ein Zufall eigentlich. Auf der Skikarte ist er nicht eingetragen. Zwei Autos stehen schon da, aus einem weissen Landrover steigt eine älterer Herr, weiss und hager und faltig und Stöpsel im Ohr. Die zieht er dann raus, Fredi ist’s und mit ihm da ist die Erinnerung. Grosse Zinne Nordwand, 1965. Wir kletterten die klassische Comici, Fredi mit Robi links von uns die direkte Hasse-Brandler. Ein Gewitter, kalter Regen, wir kamen noch zum Zelt, die beiden Jungs mussten in der Wand biwakieren. Später schrieb ich dann mal ein Porträt über den erfolgreichen Unternehmer in der Mode- und Gastrobranche Fredi Müller, Inhaber des Kaufleuten in Zürich. Wir unterhalten uns kurz übers Klettern, Jungstar der Szene war er damals, machte dann lange Pause, klettert heute wieder. «Am liebsten im Granit».
Dann fährt wieder ein Auto ein, wieder ein älterer Herr, es ist Willi. Auch er ein alter Bekannter vom SAC Zimmerberg, von Skitouren, auch er bekannt mit Fredi. Ein zufälliges Altherrentreffen also. Die Vergangenheit, alter Gemeinplatz, holt dich ein wo immer du bist. Selbst auf einer kleinen Skitour. «Die erste diesen Winter», gestehen wir etwas kleinlaut. «Ihr müsst nicht auf uns warten.»
Fredi rauscht ab, Willi fellt uns geduldig voraus, durch Wald, Nebelfetzen und auf weiter sanfter Schleife zum Gipfel. Dort trifft auch er einen Bekannten. Über uns spannt sich der Himmel wolkenlos, im Muotatal liegt dicker Nebel, das Panorama ist phantastisch, tausend Gipfel, Zacken, Hügel, die Mythen und überm Tal der Blüemberg, Teil unserer Familiengeschichte.
Der Schnee pulvrig doch wie immer, wenn wir uns mal aufraffen für eine Tour, schon ziemlich verfahren. Der treue Willi wartet immer wieder auf uns, sein Freund taucht ab. Dann sitzen wir in Oberiberg im «Roggenstock» auf der Sonneterrasse bei Kaffee, heisser Schokolade und Kuchen. Vielleicht war’s ja doch nicht die letzte Skitour des Winters.

Die Schlange

Eine Begegnung am Fuss der Wand. Vor lauter Freude über die kleine Schlange vergessen wir fast das Klettern.

Ich bin schon beim erste Haken, als meine Partnerin ruft: «Komm nochmals herunter, das ist eine kleine Schlange.»

In Zeitlupe windet sich das Reptil durch Schotter und Laub, grau gemustert, einen halben Zentimeter dick und fast zwanzig lang, der Kopf dunkel gefärbt. Ein mikroskopisches Zünglein tastet sich durch die winzige Welt dieses einsamen Wesens. Ein Wunder, dass es überlebt hat an diesem Ort, an dem oft ziemlich Betrieb herrscht, die Leute nicht immer darauf achten, was da kreucht und fleucht. Was ist es wohl? Auch die jungen Kletterer, die wir fragen, wissen es nicht. Wohl am ehesten eine Kreuzotter. So winzig und schon halb in Winterstarre wird sie uns bestimmt nicht beissen. Wir haben keine Angst vor Schlangen. Hier auf der Galerie haben wir auch schon junge Ringelnattern gesichtet, die kennen wir. Das ist dieses kleine Wesen wohl nicht, die gelbe Schuppe am Kopf fehlt. Eine Aspisviper? Wohl eher selten in der Gegend.

Zwischen den Seillängen beobachten wir unsern neuen Freund oder unsere Freundin, wie er oder sie verschwindet, wieder auftaucht in einem Polster von feinem Klee. Diese Ruhe, diese Gelassenheit. Die fehlt uns. Ein deutscher Kletterer fällt uns ein, der ein Buch veröffentlicht hatte mit Tipps, wie man die persönliche Klettertechnik verbessern könnte. Einer lautete: Stell dir vor, du bist ein Tier. Ein Affe, eine Eidechse oder Schlange zum Beispiel, ja, das stand in dem Buch. Per Zufall kam dieser Kletterautor einmal auf die Galerie, alles schaute zu, wie er eine schwere Stelle versuchte, sich abmühte. Wir munterten ihn auf, riefen: «Stell dir vor, du bist eine Schlange!» Fies eigentlich, aber schliesslich schaffte er die Stelle, als Schlange, Eichhörnchen, Schwalbe oder was immer.

Mit der Zeit verlieren wir unser Reptil aus den Augen. Wir hoffen, es überlebe den Winter und begegne uns im nächsten Frühling wieder, grösser und schneller noch. Gebt acht auf der Galerie, liebe Kletterfreunde und -freundinnen. Schaut auch mal nach unten, nicht nur nach oben.

Mettmen im Schnee

Früh ist der Schnee gefallen. Gestern noch bis 1700 Meter. Ob Mettmen noch geht?

Noch einmal in diesem Herbst. Es sind noch Rechnungen offen. Hakenhänger, an Stellen, die einst leicht von der Hand gingen. Das Alter, aber bitte nicht ständig klagen. Schau nach vorn.
Die Seilbahn ist gut besetzt, Wanderer, Rentner, Familien mit Kindern, ein Hund. Sonne, Schnee liegt bis zum Stausee. Wir könnten ja auch wandern, aber zuerst einen Kaffee im neuen Berghaus, Berghotel-Mettmen. Die Bedienung freundlich, Glarnertüütsch, heimatlich. Das Haus passt gut in die Landschaft, Holzfassade. Initiative eines mutigen Ehepaars, das zuvor die Leglerhütte bewirtschaftet hat, Chapeau! Und es läuft gut, hören wir, besser als erwartet. Als wir erwartet haben. Was uns doch sehr freut.
Der See, randvoll, ein Spiegel. Wir stapfen durch den Schnee hinauf gegen die Felsen. Klettern? Ja, es geht. Der Fels ist trocken, sonnenwarm, griffig, herrlich. Mettmen eben. Wir sind allein, Stille, nur der Piff eines Murmeltiers schreckt uns auf.
Am Fuss der Wand bilden sich Pfützen vom schmelzenden Schnee. Aufgepasst, dass die Seile nicht nass werden! Auch das schaffen wir. Und auch die Stellen, die mir das letzte Mal zu schaffen machten. Es geht, es geht, es geht noch immer. Fein! Noch was Leichtes, als Kletterdessert. Das dann doch nicht ganz so leicht ist. Aber leichten Herzens steigen wir ab. Noch ein Kaffee auf der Sonnenterrasse. Blick zum tief verschneiten Glärnisch. Glück.

Nieder mit den Alpen!

Man fühlt sich an den Opernhauskrawall im Jahr 1980 erinnert. Doch diesmal befinden sich die Chaoten nicht auf der Strasse, sondern im Bundesamt für Kultur. Das Alpine Museum soll kaputt gespart werden.

Damals ging es auch um Kulturpolitik. Millionen fürs Opernhaus, nix für alternative Kultur. «Nieder mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer», so klang der wohl bekannteste Schlachtruf aus jenen heissen Tagen.
Nun, die Bundesberner Kulturbürokraten wollen nicht gerade die Alpen schleifen, aber irgendwie haben sie die freie Sicht, bzw. den klaren Blick verloren mit dem Entscheid, den Bundesbeitrag ans Alpine Museum zu vierteln. Eine finanzielle Schmalkost, die das Kulturhaus in Sichtweite des Bundeshauses voraussichtlich zu Grunde gehen lässt. Zur musealen Dokumentation der Alpinen Kultur genügt offenbar das Freilichtmuseum Ballenberg.
Man müsste den Subventionen verteilenden Beamtinnen und Beamten ihre prächtige Aussicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau tatsächlich wegschleifen. Brauchen die Alpen kein Museum, keine Dokumentationsstelle, kein aktuelles Ausstellungs- und Diskussionsforum, keinen Kulturplatz mit spannenden Events und aktuellen Interventionen? Zur Ressource Wasser zum Beispiel, zum Wolf in den Alpen.
Am kommenden 1. August werden sie wieder zelebriert und besungen, unsere Berge, Gipfel, Gletscher, «wenn der Alpen Firne sich röten». Réduit und Matterhorn, Gotthardbasis und Grimselsee, Wildheu und Alpkäse, Hannibal und Suworow. Die Alpen sind patent, wenn es um Festreden, Militärübungen, Skizirkus und Wasserzinsen geht. Oder als Magnet für Investitionen aus Ägypten, Katar oder China in touristische Megastrukturen. «Betet, freie Schweizer, betet.»
Eigentlich müssten jetzt die 140 000 Mitglieder des Schweizer Alpen-Clubs mit Seil und Pickel auf dem Bundesplatz für die Erhaltung des Alpinen Museums demonstrieren. Wie die Bauern oder die Walliser. Oder die Jungen damals vor dem Zürcher Opernhaus. Einfach, ohne Pflastersteine zu werfen oder Gülle zu verschütten.

Den Drachen besiegen!

Am Balladrum stossen wir unverhofft auf eine Spur des Tessiner Sportkletterpioniers, Bergführers und Autors Luca Sganzini.

Die Sonne heizt schon am Morgen die Wand im Wald unterhalb des Balladrum auf. Nur die linke Kante liegt noch im Schatten. Etwas abdrängend der Einstieg, dann um die Kante, leichter über einen Gneisrücken, ein versteinerter Drachenrücken. Wir haben ihn besiegt! «Sconfiggere il Drago» heisst die Route. Es ist der Titel des einzigen Buchs von Luca Sganzini, der jetzt 65 Jahre alt wäre – im November 1979 ist der Tessiner Jurist, Autor und Bergführer im Hohen Atlas beim Abseilen zu Tode gestürzt. Es war ein Schock für die Tessiner Kletterszene, war doch Luca einer der Pioniere, aktiv vor allem in den Denti della Vecchia bei Lugano, wo er aufgewachsen ist. Aber auch auf schwierigen Routen in den Dolomiten. Er war einer der Ersten, die systematisches Training im Klettersport einführten und darüber publizierte. Als Teilnehmer der ersten Tessiner Himalayaexpedition erreichte er am 18. Oktober 1978 den Gipfel des Pumori. Im September 1979 erhielt er das Diplom als Bergführer.
Freunde gaben nach seinem Tod zur Erinnerung das Buch «Sconfiggere il Drago» heraus (Edizioni Bernasconi. Agno 1983), eröffneten in den Denti eine schwierige Mehrseillängenroute mit diesem Namen. Die Familie unterstützte den Bau einer Schutzhütte in den Denti della Vecchia, die «Baita del Luca».
Unsere Route am Balladrum ist nicht so schwierig, aber vermutlich haben sie die Einrichter 1987 ebenfalls im Andenken an Luca so benannt.
Inzwischen scheint die Sonne auch um die Kante, zu heiss zum Klettern. Wir packen Seile, Expressen, Kletterschuhe und Gürtel in den Rucksack, los geht’s zum Kaffee.

Weiterlesen:
Den Drachen besiegen. In: Emil Zopfi: Dichter am Berg. AS Verlag, Zürich 2010

Balanceakt hoch über dem Tessin

Im Alter wird Gleichgewicht zum Problem. Sei es am Berg oder auf dem Parkett. Trainingstour für eine Tangotänzerin, 70 Jahre minus 1 Tag alt.

Unser Führer hat seinen Rucksack vergessen. Auch das kommt vor im Alter – oder auch bei Jüngeren. So gibt’s auf der Cima di Sassello genau einen Viertel Salami und einen halben Apfel pro Person, das feine Tessinerbrot gibt’s dann zum Znacht. Nun ja, nach zwei Stunden Aufstieg bei mässiger Hitze genügt das auch für vier sportliche Oldies.

Nun aber folgt das Glanzstück der Tour. Die «Polenmauer», die sich über den Grat gegen die Forcarella hinzieht, einen guten Kilometer lang. Aus tonnenschweren trockenen Gneisplatten gefügt, die schwersten zuoberst, beidseits die Mauer überragend. Wo man diese Brocken hergeholt hat und wie auf die anderthalb Meter hohe Mauer hinaufbefördert, das können wir uns nur schwer vorstellen. Während wir über die Mauer balancieren, Fuss vor Fuss, denken wir an den Bau der Pyramiden oder der Chinesischen Mauer. Stellen uns ein Heer von Sklaven vor, das hier ameisengleich mit Flaschenzügen und Stemmeisen monatelang geschuftet hat, bei Hitze, Kälte, Regen und Sturm. Bewacht und angetrieben von Aufsehern.

Es waren keine Sklaven, sondern internierte polnische Soldaten. Gestrandet auf der Insel Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Sie bauten Strassen (450 Kilometer, unter anderem am Sustenpass), bauten oder renovierten Brücken, rodeten Alpen (zum Beispiel Meerenalp), leisteten auch sonst viel Nützliches. Welchem Nutzen allerdings dieses gewaltige Bauwerk gedient haben könnte, bleibt schleierhaft. Schutzzaun gegen Geissen oder Waldbrände? Zu beidem taugt sie wohl kaum. Vielleicht einfach Arbeitstherapie für Heimwehkranke Fremde, die man in die Einsamkeit der Tessiner Berge verbannt hatte. Alles wäre noch Gegenstand vertiefter Forschung.

Leider ist das spektakuläre Bauwerk da und dort schon am Zerfallen, wer es pflegt ist unklar. Es fehlt auch ein schlichtes Gedenktäfelchen. Das bombastische Gipfelkreuz auf dem Sassariente dient wohl anderem Zweck. Obwohl: die Polen waren ja mehrheitlich katholisch wie die Einheimischen. Unser Führer findet, die Tour sei eine der schönsten kleinen Wanderungen im Tessin. Ein Balanceakt über ein historisches Bauwerk. Manchmal ziehen wir es vor, neben der Mauer zu wandern, doch die meiste Strecke schaffen wir in luftiger Balance, manchmal mit den Händen stützend oder gar rückwärts, wenn es steil wird. Doch der Gleichgewichtstest ist bestanden, wir haben es geschafft. Ob hier schon mal jemand hinuntergefallen ist?

Zum Abschluss geht’s mit Ketten und über Stufen hinauf auf die Spitze des Sassariente, ein kleines Matterhorn mit weiter Aussicht übers Tessin und bis zum Monte-Rosa-Massiv. Dazu nochmals einen Viertel Salametti und einen halben Apfel. Das muss reichen für den steilen und ruppigen Abstieg bis ins nächsten Grotto.

Ein Sommerabend auf dem Balkon

Der Balkon ist wohl zweihundert Meter lang, zwanzig breit. Phantastischer Blick auf die Berge und den See. Was will man mehr? Kleine Reise in die Vergangenheit.

Wir sind dem Wasser entstiegen, wie einst das Leben. Kühl, trotz grosser Hitze. Schon beim Schwimmen haben wir hinaufgeschaut, hoch oben der Balkon, an die gelbgraue Wand geklebt, noch immer im Sonnenglast. Übermorgen ist der längste Tag. Und ich wollte das noch einmal erleben. Einen Sommerabend auf der Galerie. Wie damals, wie in unvergesslichen Tagen.
Das Thermometer bei den Eisenklammern am Zustieg zeigt noch immer dreissig Grad. (Wer hat das eigentlich an die Wand geklebt?) Kein Mensch zu sehen, ist ja wohl klar. Bei dieser Hitze! Trotzdem wundern wir uns, gab es doch eine Zeit, wo «mann/frau» sich traf, an Sommerabenden nach der Arbeit oder dem Baden. Damit es sich anfühlt wie damals, haben wir ein Auto gemietet. Sonst kommen wir im Sommer am Morgen, wenn der Balkon noch im Schatten liegt, die Wand dahinter ausgekühlt. Nur selten Kletterer am Werk. «Triathlon» nennen wir solche Expeditionen. Wir kommen mit dem Bus, wandern die Strasse hinab, klettern, wandern weiter zum Seeufer, Lago Mio, Sprung ins Wasser. Wandern, klettern, schwimmen.
Heute jedoch sind wir aus dem Wasser gekommen, während der ersten Route sind unsere Körper noch frisch. Dann staut sich die Hitze. Trotz Schatten. Roter Kopf, schweissige Hände. Wir bleiben allein. Ein Spinner wohl, der nicht anders kann. Läuft dem Vergangenen hinterher, mit seiner geduldigen Begleiterin. Engelsgeduldig. Doch alles muss stimmen. Und stimmt doch nicht. «Die alten Strassen noch …» Wir denken an die Freunde, Freundinnen, die jetzt anderswo sind. In einer Hütte, hoch im Gebirge vielleicht. Der Mürtschenstock im Abendlicht gegenüber, er steht wie immer. Bleibt uns treu, bleibt uns verbunden. Ein Satz fällt mir ein. «Melancholie ist die Schwester der Nostalgie.»
Dann wandern wir durch den Wald hinab, die Luft noch immer drückend, schwül. Hoffentlich keine Zecken, diesmal! Das Bad im See frischt auf. Dann noch eine winzige Enttäuschung. Die Küche im Lago Mio ist geschlossen, keine Bratwurst mehr auf dem Grill. Ein letzter Nussgipfel noch zum Bier, nicht ganz stilecht und schon ein bisschen trocken. Nochmals schwimmen, Kaffee. Dann ins Auto, heimwärts.

Rund um den Mürtschen

Der Mürtschen ist unser Kailash, immer mal wieder wandern wir rundum. Ob’s zur Erleuchtung reicht, ist nicht sicher. Bestimmt aber zur Erbauung und Ermüdung.

«Nach der 13. Umrundung des Kailash bekommt der Pilger Zutritt zur inneren Kora. Vorgebliches Ziel jedes Buddhisten sei es, den Kailash 108-mal zu umrunden. Wer dies schafft, der erlangt nach buddhistischer Lehre die unmittelbare Erleuchtung.» (Wikipedia.)
Wir sind keine Buddhisten und glauben an keine Heiligen, doch der Berg, an dessen Fuss wir 21 Jahre lang lebten (also heilige 3 mal 7 Jahre), ist und doch so etwas wie heilig geworden. Mindestens einmal im Jahr hinauf und einmal rundum, damals. Heute mit einem Freund aus Kolumbien, der gut zu Fuss ist. Seine tägliche Trainingsstrecke im 2640 Meter hohen Bogotà beträgt 400 Höhenmeter.
Durch Obstalden und rasch an unserem ehemaligen Haus vorbei, ein Blick in den Garten, der gepflegt erscheint und für Kinder mit allerhand Spielgerät ausgestattet, aber verlassen wie der Rest des Dorfes. Sonntagmorgen, schon wird es heiss. Der Aufstieg zum Glück zum Teil durch Wald, fällt auch leicht durch Gespräche, Erinnerungen. Lange Geschichten verbinden uns.
Im Beizli auf dem Hüttenberg meldet sich auch niemand auf unser Rufen, gern hätten wir Steffi begrüsst. Die Wähe steht bereit und duftet, eine Tafel verkündet, das Beizli sei offen ab irgendwann bis 18 Uhr. Vielleicht ist sie am Heuen in den Hängen oben, wo eine Mähmaschine rattert und wir einst unsere Schwünge in den Pulverschnee zogen.
Kleiner historischer Exkurs auf der Meerenalp für Damen aus Konstanz, deren Führer auch nicht weiss, dass hier Internierte Dienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg rodeten und Kartoffeln pflanzten. Staunend betrachten sie die eingemeisselte Inschrift auf einem Felszacken, wundern sich auch über den Fehler in der Rechtschreibung: Alprhodung.
Statt der Geschichte widmen wir uns dann der Botanik. Wie unterscheidet man Germer und gelben Enzian? Sie blühen noch nicht, dafür viel Knabenkraut und blauer Enzian und viel Weiteres, Buntes rund um den Robmen. Wie unterscheiden sich Arven und Föhren? Das ist später, gegen Obermürtschen, die Frage. Zur Mürtschenfurggel hin, dem höchsten Punkt der Wanderung, interessieren uns Gesteine. Kalk, Karst, Urgestein, Verrucano.
Die Wanderung rund um den Mürtschen ist ein Gang durch Naturwunder, eine Anbetung der Schöpfung in ihrem eigenen Namen, ohne Priester oder Heilige. Die Erleuchtung ist das Erlebnis selbst.
Nun also bergab, die Knie spüren es, doch die Stöcke bleiben im Rucksack. Wir schaffen das noch immer. Wir bewundern eine vielfarbige Viehherde, schwarz, braun, weiss, gross und klein, bunt gemischt, ein Symbol friedlicher Koexistenz. Unser freund filmt und freut sich am klingenden Konzert der Kuhglocken. Wenn den Auslandschweizer in Bogotà das Heimweh übermannt, wird er zum Smarthphone greifen und dem Glockengeläut der friedlichen Schweizer Kühe lauschen.
Kurze Rast im Beizli am Talsee, wo wir auch Susanne noch begrüssen können, die Mutter der Wirtin. Die mir auch noch das Du anbietet, eine Ehre für den Zu- und wieder Wegzüger. Der nun wieder wegzieht, mit dem Bus nach Näfels hinab, wo es im Kiosk feine einheimische Glacé gibt.

In der Pfalz

Heisse Tage im sagenhaften Sandsteinfelsenland. Auf Himmelsleitern hoch über weiten Wäldern.

«Ich geh in mei Palz un trink Wei.» Ich erinnere mich nicht, woher ich dieses Lied kenne, aber es geht mir dauern durch den Kopf. Doch wir sind nicht wegen dem Pfälzer Wein hergekommen, sondern wegen den Felsen, den bizarr geformten rötlichen Sandsteingebilden, die da und dort aus den Wäldern ragen, die sich über die Hügel dahinziehen. Manchmal ist es Kein Fels, sondern ein Schloss oder Fels und Burg in einem, wie beim Drachenfels, an dem wir am Morgen kletterten.
Nachmittags klettern wir am Heidenpfeiler, mit 60 Metern höchste Wand des Gebiets, ziemlich direkt der brennenden Sonne ausgesetzt. Hie und da ein kühler Lufthauch. Muss ja sein, auf einer Route, die Himmelsleiter heisst, ein «Pflichtklassiker» gemäss Führerbuch. Das ist so dick wie ein Altes Neues Testament zusammen. Hunderte Routen also und keine leichte darunter, sagt Robert.
Die erste Seillänge der Himmelsleiter ist weder Leiter noch himmlisch, ziemlich vermoost, wird wohl kaum mehr geklettert, trotz Pflicht. Zu deren Erfüllung genügen offenbar die zwei oberen Seillängen, wo es dann immer luftiger wird. Die erste zu Beginn auch noch moosig, Griffe und Tritte jedoch geputzt – hoffentlich keine seltenen Moose! Dann steilt sich die Sache auf, wird krass überhängend und ausgesetzt und streng. Es scheint, dass in der Pfalz alle Routen mit unmöglichen Überhängen enden durch Risse führen, die einem schon beim Hinschauen Angst machen. Gut ist Freund Robert ein in zig Bigwalls erfahrener Friend- und Keileleger. Das geht so schnell, ich kann kaum zuschauen, wie er die Geräte setzt. Muss dann auch nicht vorsteigen, da ich immer die Ausrede finde, die Sicherungen herausholen gehe im Nachstieg besser.
Während wir also auf der Felsenleiter dem Himmel zustreben, wacht am Wandfuss Roberts Hund über unsere Rucksäcke und verbellt von Zeit zu Zeit Räuber und friedliche Kletterer oder Wanderer. Zur Strafe muss ihm Robert am Abend ein paar Dutzend Zecken aus dem Fell holen – wir sind zum Glück verschont geblieben.
Verbellt wurde übrigens auch Robert am Morgen, nicht von einem Hund, sondern von einem Kletterer, der auf sein Magnesiasäcklein zeigte: «Magnesia ist hier nicht erlaubt!»
«Also verboten?»
«Nein, nicht verboten, doch nicht erlaubt.»
Ein juristisch komplexes Problem also. Der strenge Felspolizist – Robert stufte ihn als Oberlehrer ein, und da er selber den Titel «Studiendirektor» trägt, kann er nicht weit daneben liegen. Der Mann kontrollierte nun tatsächlich den Inhalt von Roberts Magnesiasäcklein. Es war leer. Robert benutzt flüssiges Magnesia, aber das sei ein noch schlimmeres Vergehen, befand der grimmige Oberkletterer. Die Griffe würden auf ewige Zeiten zugepappt. Er wiederholte das, bis ihn seine Partnerin sanft zum Weitergehen aufforderte.
Also gut, wir haben beim Klettern viele Magnesiaspuren angetroffen und uns an offenbar zugepappten Griffen ganz gut festgehalten. Und uns an der Anekdote mit dem Pfälzer Felspolizisten bei echtem Pfälzer «Wei» auch noch köstlich amüsiert. Nicht nur illegal Magnesia verwendet, sondern auch auf einem illegalen Zeltplatz übernachtet. So wie einst die echten Räuber in diesem Land, die man dann auch auf echte Himmelsleitern geschickt hat, nämlich auf Schafott.

Belchenflue

Jura, warum nicht mal? Wandern ist angesagt, schönes Wetter auch, fast zu heiss eigentlich. Und literarische Spuren gibt’s auch noch.

Der Kaffee im Avec am Bahnhof in Sissach ist, na ja…, wir haben ihn getrunken. Das Maisbrötli «frisch von gestern» gegessen. Den Weg zum Aufstieg auf den Zunzgerberg gefunden. Im Wald ist’s kühl, lauschig. Später dann dehnen sich auf der Höhe Getreidefelder, Kirschplantagen, sogar mit Früchten, also offenbar vom grossen Frost verschont. Bei einem Bauernhof kaufen wir ein Gläschen Jurahonig, werfen die Münzen ins Kässeli. Der Wanderführer, in dem wir die Route gefunden haben, warnt vor ein paar Hundert Metern Asphalt, eine «Durststrecke» – die asphaltierten Zufahrten zu den Höfen verschweigt er. Wir wandern dann halt manchmal im Gras neben der Strasse, ein scheues Pferd weicht uns aus. Und dann kommt auch wieder Wald, Schatten. Schliesslich entscheiden wir uns für das Bergrestaurant Oberbölchen, lassen den Gratweg rechts liegen, da der Durst inzwischen recht plagt und der Proviantmeister den Kalorienbedarf für 20 Kilometer Strecke und 1000 Meter Aufstieg irgendwie falsch berechnet hat. Dass das Haus am Berg aber auch Rastplatz für Töfffahrer und motorisierte Rentner und Familien ist, haben wir im Führerbuch und auf der Landkarte nicht so genau mitbekommen. Immerhin, der Kellner ist freundlich, der Nussgipfel klein aber nicht unfein. Also weiter, steil hoch, im Sound der kurvigen Passstrasse.

Die Belchenflue, wir wissen es, war der erste Gipfel des berühmten Bergsteigers und Kommunisten Lorenz Saladin, der uns zeitweise doch ziemlich beschäftigt hat. Wir wandern also auf seinen Spuren. Ausführlich schildert seine Biografin Annemarie Schwarzenbach, wie Lenz als kleiner Bub mit seinem älteren Bruder Sepp aufbrach, um die «Böchefuä» zu besteigen. Hunger litten sie und Durst nach dem langen Marsch durchs Waldenburgertal hinauf. Das Angebot eines Bauern, sie könnten bei ihm übernachten und Milch bekommen, lehnten sie ab, marschierten unentwegt weiter. Annemarie Schwarzenbach schreibt:

«Es war stockfinster, als sie schliesslich auf dem Gipfel ihres grossen Berges anlangten. Lenz klagte ein bisschen, er war durstig und hungrig, die Nacht kalt und einsam. Den beiden todmüden Buben sank der Mut. Dem Älteren, selber den Tränen nahe, fiel ein, zu sagen: ‹Aber du darfst nicht heulen, Lenz›, und der Kleine antwortete verständig: ‹Nein, sonst sagt der Bauer wieder, wir seien Knöpfe!› Dann legten sie sich auf dem Waldboden nieder, Sepp nahm den jüngeren Bruder in den Arm, sie deckten sich mit dem Kittel zu, und als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Lenz stellte es sofort fest: ‹Jetzt ist die Sonne früher als wir aufgestanden!› Einen Augenblick schien es ihnen, sie seien um den eigentlichen Sieg und Höhepunkt des grossen Abenteuers betrogen. Aber sie standen auf dem Gipfel, unter ihnen verzog sich der Nebel, weithin konnten sie Täler, Felder, Wiesen, Dörfer und einen Flusslauf überschauen, die Sonne wärmte ihre steifen Glieder – und sie hatten den grossen Berg bestiegen! Später meldete sich der Hunger; ein bisschen besorgt, aber noch lange nicht entmutigt, machten sie sich auf den Heimweg.»

Die Belchenflue war Lenz Saladins erster «grosser Berg», viele weiter folgten bis zum letzten, dem Khan Tengri, nach dessen Besteigung er an Erfrierungen starb und 1936 am Fuss des Iniltschek-Gletschers sein Grab fand, das lange Jahre verschollen blieb.

So denken ich also auf der felsigen Spitze dieser Fluh an den vor 81 Jahren Verstorbenen, für und über den ich zwei Bücher herausgegeben habe: Die Neuauflage der Biografie von Schwarzenbach und ein Fotobuch mit Texten und Recherchen, zusammen mit Robert Steiner. Ein feiner Wind weht auf dem Gipfel, die Schweizerfahne flattert. Auf dem Alpenzeiger orten wir weit im Osten im Dunst den Säntis und stellen uns vor, Tausende von Kilometern weiter in jener Richtung rage der Siebentausender Khan Tengri in den blauen Himmel Kirgistans und neben ihm eine Schneekuppe, die den Namen Pik Saladin trägt.

Der Abstieg durchs heisse Dürsteltal hinab nach Langenbruck dehnt sich qualvoll. Wir meiden den Wanderweg an der prallen Sonne, wandern lieber auf der Asphaltstrasse, die zum Teil im Schatten liegt. Langenbruck macht uns dann einen eher zwiespältigen Eindruck, etwas heruntergekommene Häuser an der Hauptstrasse, ein seltsames Militärmuseum, eine staubige Baustelle. Wir sitzen in einem kleinen Park, holen im Coop eine Flasche Schorle, pflegen unsere wunden Füsse.