Klettergarten Holzegg

Zum ersten Mal im Klettergarten auf der Holzegg. Der schönste Ort zum Klettern, den sie kenne, sagt Christa.

Die Wand sieht phantastisch aus, fast weisser Kalkfels, geformt wie ein kleiner Berg, eine achtzig Meter hohe Kopie des Grossen Mythen, an dessen Fuss er sich erhebt. In der Seilbahn haben wir Peter Guyer getroffen, den «Mythenpöstler», Doyen des Huderterclubs. Er steige nicht mehr hinauf, sehe fast nichts mehr. Sein Freund vom Hunderterclub, Armin Schelbert, schaffe demnächst die 5000ste Besteigung des Grossen Mythen. Wie wir gönnt sich auch Peter einen Kaffee im Restaurant. Zur Wand sind es ja nur fünf Minuten, den etwas versteckten Einstieg in den Zugangsweg finden wir auf Anhieb.

Es ist ein gewöhnlicher Werktag, doch da klettern schon einige Teams, eine Seilschaft hängt hoch in der Wand. An Wochenenden sei der Klettergarten schon ziemlich überlaufen. Eigentlich frage ich mich, warum wir noch nie hier gewesen sind. Die Anfahrt mit Zug, Bus und Seilbahn ist mit OeV einfach und schnell. René Andermatt, der die Hauptarbeit beim Einrichten geleistet hat, hat mir vor ein paar Jahren fürs Mythenbuch Informationen geliefert. Und erwähnt, dass wir uns eigentlich kennen. Vor dreissig Jahren entstanden die ersten Routen, 2010 bis 2014 haben René und sein Team grosse Arbeit geleistet. Fels geputzt. Über dreissig Routen eingebohrt, zum Teil bis drei Seillängen, mit Abständen wie in der Halle, dazu perfekte Stände mit Ketten und Umlenkkarabinern. Ein kleines Vermögen haben sie wohl investiert. Zur Freude der kletternden Nachwelt.

Und die Freude ist gross, der Fels schön griffig, noch nicht abgespeckt, die Routen, die wir klettern, interessant. Risse, Platten, sehr abwechslungsreich. Klar, wir bleiben im Seniorenbereich! Die Sonne wärmt, in der Tiefe tingeln Kuhglocken auf der Alp, über dem Muotathal sehen wir Rossstock, Kaiserstock, Blüemberg. Berge, die zu unserer eigenen, ganz privaten Geschichte gehören. Glückliche Erinnerungen. Wir klettern für einmal mit Helm, wie empfohlen, da gelegentlich noch ein Griff abbrechen kann oder sonst ein Stein sich lösen. Allerdings hören wir keinen einzigen an diesem Tag. Wahrscheinlich ist der Weg auf den Grossen Mythen gefährlicher, was Steinschlag betrifft.

Die Wand ist durch einen Bergsturz vom Holzeggköpfli entstanden, die riesige Schutthalde hat eine ganze Alp zugedeckt. Der Geologe Albert Heim datiert ihn ins 16. Jahrhundert. Der Malmkalk ist im geologischen Massstab noch frisch gebrochen, wenig verwittert. Nach den paar Stunden Kletterei sind wir so begeistert, dass ich sogar wieder mal einen Blog schreibe …

Zu Beginn meines Kletterlebens, Frühling 1960 glaube ich, bin ich schon einmal zum Klettern auf die Holzegg gekommen. Mit dem Velo die weite Fahrt aus dem Zürcher Oberland ins Alpthal. Köbi, mein Gefährte, baute mit seinem Töffli einen kleinen Unfall, den verbogenen Lenker seines konnten wir von Hand wieder richten. Köbi wanderte kurz darauf nach Neuseeland aus, wo er glaube ich heute noch lebt.

Eine schlaflose Nacht verbrachten wir im Massenlager auf der Holzegg. Eine Gruppe von besoffenen Naturfreunden gröhlte, erzählte schlüpfrige Witze. Ruhig waren nur die Pärchen, die unter Wolldecken kuschelten. Am Morgen waren wir fast froh, dass dicke Wolken um die Mythen strichen, die Felsen noch nass waren vom Regen der Nacht.

Wir unterhielten uns mit zwei  Kletterern der Jugendorganisation der SAC-Sektion Mythen aus Schwyz, die am Nachmittag zum Geissstock wollten. Köbi und ich zogen ab. Zwei Tage später las ich in der Zeitung, dass Klaus Neff und Gebhard Bischof an jenem Tag zu Tode stürzten. So hat der schönste Tag auch seine besinnliche Seite, denn vor den Erinnerungen gibt es kein Entrinnen. Sie sind da, eingeschrieben in die Landschaft, lesbar nur für die Erinnernden.

Zindelspitz

Am 6. Juli 1919 wurde die Sektion Zindelspitz des Schweizer Alpen-Club gegründet. Zur Feier eine kleine Erinnerung.

Zindelspitz. (Bild aus Internet)

Der Zindelspitz oder Zindlenspitz ist ein beeindruckener Berg. Matterhorn Nummer 17 auf der Liste des Berner Alpinhistorikers Daniel Anker, der weltweit Matterhörner sammelt. Eine schöne Auszeichnung also und zudem: Der Zindelspitz war Ziel meiner ersten privaten Klettertour – genau in diesem Sommer vor 60 Jahren. Ich kann also sagen, dass nicht nur die Sektion Zindelspitz ein Jubiläum feiert, sondern auch ich mein ganz privates Zindel- oder Zindlenspitz-Gedenkjahr.
Es war also im Sommer 1959, mein Freund Hansruedi Horisberger und ich strampelten an einem Samstag mit dem Velo ins Wägital. Zum ersten Mal, unendlich viele weitere würden folgen. Aber das wussten wir ja noch nicht.
Hansruedi und ich kennen uns seit dem ersten Schultag der ersten Klasse in Gibswil im Zürcher Oberland. Ich erinnere mich gut, da sass ein Fremder Bub, sprach eine seltsame Sprache, die keiner so richtig verstand. Es war Berndeutsch. Bis zur zweiten Sek gingen wir in die gleiche Klasse, verstanden uns bestens, waren dicke Freunde geworden. Dann trennten sich unsere Wege – und fanden sich wieder zu unserer ersten Expedition ins Wägital zum Zindelspitz.
Beide hatten wir einen Kletterkurs besucht, er bei der IO Zimmerberg, ich bei der IO Bachtel. Das Leben hatte uns geografisch getrennt, aber die aufkeimende Leidenschaft für die Berge hatte uns wieder zusammengeführt. Wir waren Lehrlinge, wir hatten kein Geld und auch sonst nicht viel.
Auf der Alp Hofläsch krochen wir ins pampige Heu, so wie später unzählige Male auf der Schwarzenegg, wir froren, bekamen vielleicht ein bisschen Milch von den Älplern zum Frühstück, am Morgen lag dichter Nebel. Das störte uns aber überhaupt nicht, und ich wundere mich noch heute, wie wir den Nordgrat des Brünnelistocks fanden. Denn nicht bloss der Zindelspitz sollte es sein, sondern eine Überschreitung, so wie wir das von den zünftigen Alpinisten in den Bergsteiger-Abenteuerbüchern gelesen hatten. Brünnelistock Nordgrat, Schwierigkeitsgrad 1, dann über den Rossälplispitz zum Zindelspitz. Nicht gerade der Peutereygrat, aber alle Grossen haben schliesslich klein angefangen.
Hansruedi hatte ein Hanfseil aufgetrieben, wir banden uns um den Bauch an mit dem im Kletterkurs gelernten Spirenstich, sicherten über die Schulter ohne Selbstsicherung. Ich kletterte mit Vaters Militärschuhen aus dem Aktivdienst, Hansruedi mit ähnlich abenteuerlichem Schuhwerk. Schwer kam uns der Grat nicht vor, vor dem Tiefblick bewahrte uns der Nebel. Hinüber zum Rossälplispitz gab es dann glaube ich ein Weglein, und auch auf den Zindelspitz wanderten wir am kurzen Seil, wie im Kletterkurs gelernt.
Der spitze Gipfel des Zindlen war in dichten grauen Nebel gehüllt, Aussicht unter Null. Ein paar Leute sassen oben und ich erinnere mich noch, dass einer ein seltsames blechiges Gerät dabei hatte. Er behauptete, das sei ein Lauschgerät und sie hätten uns damit belauscht durch den dicken Nebel hindurch. Jedes Wort und jeden Furz hätten sie gehört. Wir machten verdutzte Gesichter und die Gruppe lachte uns aus. Später habe ich einmal Miltitärdienst mit den Wettersoldaten gemacht, da sah ich, dass das so genannte Lauschgerät der Sender eines Wetterballons war, den die feinen Kerle gefunden hatten. Die machten sich auch noch lustig über unser Hanfseil, das vielleicht nicht gerade der aktuellen Sicherheitsnorm entsprach. Beleidigt zogen wir ab und beschlossen, in Zukunft nur noch auf Berge zu klettern, auf die kein Weg führt, dort würden wir bestimmt nicht mehr so blöden Typen begegnen.
Als nächstes Ziel bot sich das Bockmattli an. Wir begannen mit der Südwestverschneidung am kleinen Turm, der Normalroute am Grossen, dann Westriss-Westkante und am Ende kletterten wir fast alle Routen, die es damals gab. Nur auf dem Zindelspitz war ich nie mehr.
Bald gab es Ärger mit der IO. Dass wir nur noch privat kletterten, passte meinem Leiter nicht. Die ausgeliehene Ausrüstung, Seil und Pickel, musste ich abgeben. In einem Sommer, wir waren ja schon Extremkletterer mit Nordwanderfahrung, hiess es dann: entweder kommst du jetzt mit auf IO-Touren, oder wir schmeissen dich raus.
Ich meldete mich also an für den Ringelspitz, Matterhorn Nummer 249 auf der Ankers Liste. Eine schöne Tour bei prächtigem Wetter, auf der wir einer Bündner Kletterfamilie mit einer netten Tochter begegneten. Aber das ist eine andere Geschichte. In der IO jedenfalls konnte ich bleiben.

Sechzig Jahre Fels

Am Pfingstmontag vor sechzig Jahren kletterte ich zum ersten Mal am Seil auf einen Berg: den Altmann im Alpstein. Ein kleines Gedenken in Dankbarkeit.

Richtige Bergschuhe besass ich noch nicht, Vaters alte Militärschuhe trug ich wohl, einen kleinen braunen Rucksack. Angst plagte mich bestimmt, wie ich da mit der JO des SAC Bachtel zur Chraialp hinaufwanderte, zum Pfingstkletterkurs im Alpstein. Schlaflos lag ich im Heu. Keine Ahnung vom Klettern, keine Ahnung, ob ich schwindelfrei sein würde. Abseilen im Dülfersitz hatte ich in der Pfadi gelernt, auch ein paar Knoten. Spierenstich, Führerknoten. Die Könner der Gruppe redeten von Spreizschritten, Verschneidungen, Piazzen. Fremdwörter für mich. Sie nahmen sich am Pfingstsonntag den Westgrat vor, die weniger Erfahrenen den Ostgrat des Altmann. Wir Anfänger übten an einem kleinen Kalkwändchen Dreipunkttechnik zum Klettern im Fels, Hände auf Augenhöhe!, Schultersicherung, Selbstsicherung an Felszacken. Aha! So geht das also! Ist ja gar nicht so schwer. Ich weiss nicht mehr, ob uns Walter Z., der IO-Leiter selber anleitete oder sein Stellvertreter Hannes K. Einer der beiden führte uns am Pfingstmontag, dem 18. Mai, durchs Schaffhauserkamin auf den Altmann, meinen ersten Klettergipfel. Im Kamin gab’s einen kleinen Zwischenfall. Die oberste Seilschaft löste einen Felsblock aus, der krachte zwischen uns durch in die Tiefe. Schwefelgeruch. Schwein gehabt. Auch das gehört zum Klettern, lernte ich.

Luftiges Stück auf dem Ostgrat, der Gipfel, Händeschütteln, Abstieg über speckige Kalkplatten und über Schneefelder. Ich hatte klettern gelernt, hatte heisse Hände und ein heisses Herz. Glück!

Der Altmann hat auch später eine Rolle gespielt in meinem Leben, erste Alleingänge über West- und Ostgrat, mit Lob des berühmten Bergführers Paul Etter auf dem Gipfel, erste Tour mit einer Freundin, erste Klettertour meiner späteren Ehepartnerin. Schöne Erinnerungen.

Weniger schön meine zweite Klettertour sieben Wochen später, Guppenwand am Vrenelisgärtli. Es war der 5. Juli, ein wolkenloser Tag. Weil ich im Kletterkurs war, durfte ich einer Seilschaft vorsteigen. Die Guppenwand ist ja nicht schwer, aber der Fels locker. Ein paar Meter über mir brach dem Tourenleiter Hannes K. ein Block aus, zerschlug das Hanfseil, er stürzte hundert Meter ab, starb nach zwei Monaten an schweren Verletzungen. Andere hätten vielleicht aufgehört mit klettern, aber mich hatte die Leidenschaft schon fest im Griff. Sie hat mich nie losgelassen.

Bin selber oft gestürzt, die Sicherungen und Sichernden haben gehalten, gelegentlich landete ich beim Arzt und einmal im Spital, habe Lawinen ausgelöst, wurde aber nie verschüttet, stand im schweren Steinschlag, doch der Felsblock tötete einen andern Menschen. Ich habe Glück gehabt – bis heute – blicke dankbar zurück, erinnere mich an Tausende von Stunden im Fels, kann mir ein Leben ohne den Kalk, den Granit, den Sandstein nicht vorstellen. Am 18. Mai werde ich klettern – so das Schicksal es mir erlaubt.

Finale ohne Ende

Vier Wochen Finale – klettern und wandern durch ein Museum unseres Lebens.

Müsste ich für meine Kletterleidenschaft ein Synonym finden, dann lautete es: Finale! Damit meine ich nicht das klettersportliche Finale, das sich in meinem Alter allmählich abzeichnet. Ich meine das Klettergebiet um Finale Ligure.

Vor 45 Jahren kamen wir zum ersten Mal in die Gegend. Wir besuchten einen Bildhauer, der in einem Steinbruch unterhalb der Wand der Pianarella arbeitete, doch an Klettern dachten wir damals noch nicht. 1972 hatten die Brüder Eugenio und Gianluigi Vaccari aus Genua eine erste Route durch die senkrechte gelbe und graue Kalkwand mit ihren Höhlen und Überhängen gefunden – eine der ersten im Finalese überhaupt. Zehn Jahre nach unserem ersten Besuch konnte ich die ausgesetzte Mehrseillängentour klettern, es war der Beginn einer grossen Leidenschaft. Finale habe ich seither fast jedes Jahr einmal oder zweimal besucht für ein paar Klettertage mit Freunden oder mit meiner Frau Christa. Diesen Frühling für vier Wochen: Fels, Meer, Italianità, eine Landschaft der Erinnerungen – wir wandern und klettern durch ein Museum unseres Lebens.

Routen wie Kunstwerke

Wir klettern am «Tempio del Vento», hoch über dem stillen Tal des Rian Cornei. Rauer grauer Kalk, feingriffige Routen und die Erinnerung an eine dramatische Rettungsaktion am Neujahrstag 1992, die sich bis in die Nacht hineinzog. Ein junger Deutscher war abgestürzt, lag schwer verletzt am Fuss der Wand, Sicherungsfehler seines Partners. Für die Rettung zuständig war die Feuerwehr von Savona, der chaotische Verlauf der Aktion fand nach Jahren Eingang in meinen Roman «Finale» (Limmat Verlag, 2010). Das damalige Opfer lernten wir durch das Buch noch kennen, als Vater einer begeisterten Kletterfamilie im Berner Oberland.

An der Falesia del Silenzio haben wir zuvor, wie schon viele Male, «Golden Lady» geklettert, eine Route über einen steilen Pfeiler, so ideal und harmonisch angelegt, dass ich sie als Kunstwerk bezeichne. Eine begehbare Skulptur, senkrecht, gelber Fels mit grossen Lochgriffen, die oft etwas weit auseinander liegen. Zum Abschluss eine Finale-Delikatesse, eine graue abschüssige Platte mit mikroskopischen Griffen, denen und der Haftreibung der Kletterfinken zu vertrauen, hoch über dem Haken, ziemlich Mut erfordert. Der Lokalmatador Marco Tomassini wertet in seinem neuen Kletterführer das alte 6b+ auf ein 6c auf – das macht den Veteranen schon ein bisschen stolz.

Marco treffen wir im Saleva Mountain Shop an der Piazza Garibaldi in Finalborgo – dem Epizentrum der Kletterszene. Im Borgo gibt es mittlerweile etwa 5 oder 6 Kletterläden. Wovon sie alle existieren können, bleibt rätselhaft, denn so gross ist der Markt nun auch wieder nicht. Die Preise sind nicht mehr so günstig wie einst, als es nur den Rockstore von Elisabetta Belmonte und Andrea Gallo gab, der eher vom pionierhaften Nimbus lebt als von Professionaltät. Marco freut sich uns zu sehen, er ist ein freundlicher Mensch, unermüdlicher Erschliesser und -sanierer von mittlerweile 600 Routen, eloquenter Schriftsteller und Autor eines Kletterführers, der in der neuesten Ausgabe über 800 Seiten umfasst. Nebst Routenbeschreibungen enthält die Bibel des Finalekletterns auch Porträts grosser Kletterpioniere wie Gianni Calcagno, Alessandro Grillo, Andrea Gallo. Marco klagt ein bisschen in Deutsch, das er fleissig lernt, über den finanziellen Aufwand des Routensanierens – 50 Euro pro Route im Schnitt, Sponsoren finde er nur noch schwer. Gelegentlich hat die Gemeindeverwaltung von Finale Ligure etwas zugeschossen.

Schlüsselmomente im Kletterleben

Eines Nachmittags wollen wir am Monte Cucco klettern, der grossen klassischen Felsstruktur, wo wir früher auch bei Regen unter den grossen Überhängen des Anfiteatro trockenen Fels suchten. Die einstige Müllhalde am Wandfuss ist geräumt, ein kleiner Campinplatz eingerichtet. Unsere alten Traumrouten schauen wir nur noch von unten an, «Cocconut», «Ultima Via», «Stravolgimento Progressivo». Und «Oggi in Stereo» ist, wie eine Notiz am Einstieg warnt, besetzt von einem brütenden Wanderfalken. Wir bedauern und sind doch ein bisschen erleichtert, denn der erste Haken steckt bei dieser Route gefährlich hoch und ist nicht gerade einfach anzuklettern. Nebenan finden wir noch genügend schönes Klettergelände in der Abendsonne, der nette Falke, den wir seit Jahren kennen, lässt sich nicht gross stören, selbst durch einen fliegenden Menschen nicht …

Wehmütig auch der Blick zur Rocca di Corno, die wir auf einer Wanderung umrunden. Die Route mit dem schlichten Namen «Ten» gehört zu den Marksteinen meiner Kletterbiografie. Einst scheiterte ich an den harten Zügen über den kleinen Überhang und an meiner Angst vor dem folgenden Runout. Träumte jahrelang von der Route, bis ich eines Tages am Einstieg stand, die Wand lag im milden Licht eines späten Nachmittags, und ich wusste: jetzt schaffe ich sie. Nach sechs Jahren träumen durfte ich den Exploit als on-sight notieren. Ein flüchtiger Moment des Glücks. Auf unserer Wanderung kommen wir nahe am Einstieg vorbei, vielleicht, ja, vielleicht werde ich es nochmals versuchen. Irgendwann. Sicher jedenfalls im Traum.

Überrollt von Bikern

Finale und vor allem auch Finalborgo haben sich stark verändert in all den Jahren. Restaurants, Bars, schicke Boutiquen und Sportläden sind aufgegangen, Fassaden sind renoviert. Anderes ist verschwunden, die Bar Helvetia mit den feinen Pasticcini, das traditionsreiche Werk der Piaggio, «Simbolo dell’eccellenza tecnologica della Liguria» in Finale Marina ist eine Industriebrache mit ungewisser Zukunft. Auch die Bar Centrale in Finalborgo hat sich verändert, einst der Treffpunkt der Kletterszene, ist schicker geworden. Man hängt nicht mehr am Tresen herum, sondern wird bedient, auch auf der Piazza. Seit den Sechzigerjahren führt sie die Familie Grosso, und noch oft steht die niemals alternden und immer herzliche Signora Renata an der Kaffeemaschine.

Irgendwann hörte ich den Padrone des Hotels Florenz, Lorenzo Carlini, mit dem Kletterpionier Andrea Gallo über Biken diskutieren. Wir nahmen das nicht so ernst, Finale heisst klettern, nicht velofahren, dachten wir. Inzwischen haben die Biker die Kletterer sozusagen aus dem Stadtbild verdrängt. Wie Ritter gerüstet mit Helm und Panzer schieben die Downhiller abends ihre total verdreckten High-Tech-Gefährte über die Piazza. Bike-Shuttles fahren sie morgens auf die Höhen für den Tausend-Meter-Flow auf Downhillpisten. Familien schwärmen mit Oma, Opa, Kind und Kegel auf blitzblanken Bikes durch die Gegend. Obwohl Finale noch immer ein grosses Kletterparadies ist, sind wir Scalatori eine Minderheit geworden. Kein so bedeutender Wirtschaftsfaktor wie der Bikesport. Fast jedes Hotel am Ort nennt sich Bikehotel, und in die Ferienresidenz Sul Borgo, wo wir einen Monat wohnen, beherbergt auch das Schweizer Cross-Country-Weltcupteam. Fünf Fahrer, zwei Mechaniker, zwei Servicewagen. Finale Ligure nennt sich heute «Capitale dell’Outdoor».

Von Hardcore bis familienfreundlich

Wir kommen aneinander vorbei. Selbst auf den vielen Wanderwegen im Finalese stören uns weniger die Biker als die Spuren, die sie hinterlassen. Stark ausgefahrene Pisten, beträchtliche Erosion. Wir wollen die Umweltbelastung durch die verschiedenen Sportarten nicht gegeneinander aufrechnen. Auch die Erschliessung der letzten noch unberührten Felsen für den Klettersport ist ein Eingriff in die Umwelt. Mittlerweile gibt es um 3000 Routen in 180 Sektoren – in den Boomzeiten im Frühling und Herbst ist es oft schwierig, einen Parkplatz für den gewünschten Sektor zu finden. Denn auch im Finalese ist, wie leider in vielen andern Gebieten, das Auto der wichtigste Teil der Ausrüstung.

Nicht alle der neu erschlossenen Sektoren sind wirklich lohnend, wie wir feststellen. Doch sind in neuerer Zeit auch «familienfreundliche» entstanden wie die «Falesia del Gorilla» im Valle Aquila oder die «Tre Porcellini» an der Rocca di Perti. Interessante Linien auch unter dem Grad 6a und enge Abstände der sicheren Klebehaken. Nicht nur die Kleinen, auch uns Oldies freut das. Die Zeiten, in denen Finale als Hardcoregebiet mit harten Bewertungen galt, sind damit auch vorbei. Wir weinen ihnen nicht nach – oder dann höchstens mit einem Auge.

Wandern im Bikerparadies

Einmal wandern statt klettern in Finale Ligure. Lässt uns eine altbekannte Gegend mit neuen Augen sehen – und kritischem Blick.

Einst waren wir Kletterer unter uns, Finale Ligure war unser Mekka. Jahr für Jahr. Irgendwann hörten wir Lorenzo und Gallo diskutieren, von Biken war die Rede. Wir hörten nicht hin. Finale war klettern, punkt. Doch dann rollten sie an, vereinzelt, in Gruppen, in Massen. Nichts gegen Biker, sie sind Sportler wie wir, wir stören uns nicht. Ihnen gehören die Strassen, die Wege, Trails, uns die Wände. Man grüsst sich, man winkt sich zu. Es gibt Kollegen, die sind beides. Wenn’s regnet Biker, wenn die Sonne scheint Kletterer. Abends auf der Piazza Garibaldi in Finalborgo fahren sie ein mit ihren schmutzgepflasterten Bikes, die Downhiller mit Helmen und Knieschutz wie Figuren aus «Herr der Ringe». Inzwischen bringen die Biker das Geld in die Gegend, fast jedes Hotel ist auch ein Bikehotel, es gibt Bikeshuttles, die Herr und Herrin und Gefährt hinauf auf die Hügel fahren, dann geht es im Trail scharf bergab bis ans Meer.

Finale ist aber auch ein schönes Wandergebiet, das wir gegenwärtig erkunden. Das Wegnetz ist abwechslungsreich, gut markiert, mit der lokalen Wanderkarte verirren wir uns nur selten in den Tälern, im dichten Gebüsch, auf den Höhen. Oft sind die Wege auch Bikerouten, und das macht sie gelegentlich unwegsam. Zerfahren, zerfurcht, werden die Wege bei Regen zu Bächen, die Erosion wäscht sie aus, zurück bleibt eine Schuttrunse, da und dort gegen einen Meter tief und zwei Meter breit. Die Ränder sind steil, oft nackter Fels, so dass wir Wanderer buchstäblich an den Rand gedrängt werden, der auch kaum zu begehen ist. Manche Kurven sind so ausgefahren, dass sie kleinen Halfpipes gleichen. Sicher ist es ein megageiles Gefühl, so einen Steilhang hinabzukurven. Zum Glück sind in diesen Tagen nur wenige Biker unterwegs, sonst würde eine Begegnung zwischen uns und einem rasenden Downhiller geradezu lebensgefährlich.

Nicht nur prekäre Vegetation geht durch diese kahlen Schuttstreifen kaputt, auch alte mit Naturstein befestigte Wege lösen sich auf, an einer Stelle haben wir auch einen der so genannten «Rockpfade» gesehen, für den Breschen in alte Steinterrassen gerissen wurden. Klar, das jahrhundertealte Kulturgut der von Buschwerk überwachsenen Steinwege und Terrassen hat heute keinen wirtschaftlichen Nutzen mehr wie einst, als es die Menschen hier ernährte. Trotzdem finden wir es respektlos gegenüber der alten Kultur und der Natur, wie für einen modischen Sport mit beidem umgegangen wird.

Vielleicht sind sich die schnellen Biker dessen gar nicht bewusst; ohne den Boden zu berühren flitzen sie durch die Landschaft mit andern Augen und Sinnen als wir bedächtigen Wanderer. Als Kletterer haben wir das Problem ja auch nicht bemerkt, auch unser Sport ist in Bezug auf die Umwelt nicht unproblematisch. Auch Wanderwege verursachen eine gewisse Erosion, das ist uns auch bewusst.

«Das 100 Kilometer lange Pfadnetz von Finale Ligure hat bereits Kultstatus» lese ich in einem Mountainbike Magazin. Biker aus aller Welt treffen sich hier. Ich glaube, dass in mehreren Ländern, aus denen sie anreisen, bei ähnlichen Umweltschäden längst Unweltverbände protestiert und Behörden Verbote erlassen hätten. Hier in Liguren ist man offensichtlich tolerant oder gewichtet den wirtschaftlichen Nutzen höher als die Schäden. Oder dann nimmt das Problem gar niemand wahr, ausser ein paar Wanderern.

Fallätsche

Microadventure am Uetliberg. Direttissima durch den Erosionstrichter ob Leimbach.

Ein paar Schritte und die Zivilisation liegt hinter mir. Von der Sihltalstrasse in Leimbach führt ein Trampelweg dem Rutschbach direkt hinauf zur Fallätsche. Der Name des Bachs kündigt schon an, was kommt. Rutschiges Gelände, Sandsteinbänke, dazwischen Lehm- und Mergelschichten und zuoberst eine Bank Nagelfluh. Geologisch und botanisch interessantes Gelände, eine Welt für sich.

Vorderhand kämpfe ich mich fast wie durch Tropenwald-Dickicht – es ist ja auch ein Tropentag, der letzte dieses heissen Sommers wohl. Trotz Trockenheit ist die Vegetation üppig, meterhohe Gräser, Schachtelhalm, Dornengebüsch, Nadel- und Laubhölzer und Eiben, der Uetliberg ist einer der grössten Eibenstandorte Europas. Der Weg wird zum Bachbett, Sandsteinsstufen folgen sich, müssen auf erdigen Tritten umgangen werden. Höher oben kraxle ich dann nur noch auf allen Vieren, klammere mich an Wurzeln, Grasbüschel, Bäumchen oder einfach mit den Fingern in den Dreck. Fühle mich wie als Bub, als ich so oft und so einsam durch die Tobel und Höhlen des Zürcher Oberlandes streifte und deren Steilhänge hochkraxelte. Im Alter wird man wieder zum Kind, wird mir wieder einmal bewusst, geradezu körperlich. Und wie ein Kind geniesse ich die spielerische Kraxelei. Harmlos ist’s wohl nicht. Man könnte tatsächlich abrutschen, abstürzen, wäre nicht der Erste, der hier in Bergnot gerät oder gar zu Tode kommt. Letzte Nacht übrigens träumte ich vom Klettern, eine blockige Felswand hinauf, die plötzlich hinter mir zusammenstürzte. Ich erreichte aber das Ende der Route, ohne Angst.

Froh bin ich doch um die Trockenheit. Bei Nässe wäre die Route fast selbstmörderisch. Die rutschigen Tritte mit Laub bedeckt, das ich wegwische, bevor ich draufstehe. So wie man die Stufen in einer Eiswand putzt.

Eigentlich wollte ich zur so genannten Glecksteinhütte, die spektakulär auf einem Felsen thront, oft schon habe ich sie gesehen vom Teehüttli aus und dabei gedacht: da will ich mal hin. Nun bin ich da, finde sie aber nicht. Dafür unverhofft unter einem Überhang ein Bänklein und eine angekettete Gamelle mit Wandbuch, deponiert von einem Martin Mezger, vielleicht jenem, den ich kenne. Theologe war er, lebte im Glarnerland. Aber vielleicht gibt es mehrere Martin Mezger. Jedenfalls sei es schon das zweite Büchlein seit 2015, im ersten hätten sich zweihundert Leute eingeschrieben. Es gibt also offensichtlich einen inoffiziellen Fallätsche-Fanclub, zu dem ich nun auch gehöre, nach pflichtgemässem Eintrag.

Dann klettere ich weiter hoch, Trittspuren folgend, und erreiche sozusagen in Direttissima den Grat, begegne wieder Menschen, Wanderinnen mit Stöcken. Eine runde Stunde hat mein Mikroabenteuer oder Microadventure gedauert. Ich habe aber noch nicht genug von der eigenartigen Fallätschenwelt, steige ab zum Teehüsli und weiter unten, bei der Bristenstöcklihütte, die schwer am Abrutschen ist, quere ich wieder hinein in den grossen Trichter. Stehe plötzlich vor einem Hüttli, von dem ich noch nie gehört habe. «Felsenkammer» heisst es und gehört einem Club aus Leimbach mit etwa achtzig Mitgliedern, errichtet vor über hundert Jahren. Es gibt noch viele Hüttli am Uetliberg, fünf soll es allein in der Fallätsche geben. Hüttenromantik und Bergsehnsucht wird hier zelebriert. Abenteuerwelt vor der Haustür, Naturerlebnis ohne weite Reisen. Früher konnte man sich das auch gar nicht leisten. Es war die Zeit der Bergvagabunden und Wandervögel, der Knickerbocker und roten Socken. Aber auch besser betuchte Mitglieder des Akademischen Alpen-Clubs sollen an den Sandsteinklippen trainiert haben, ich weiss von Kletterern, die in den Sechzigerjahren hier mit Seil, Haken und Leiterli das technische Klettern übten. Fallätsche kommt ja von falaise, Felsen.

Am Schluss bin ich wieder auf dem Pfad beim Rutschbach, und da erinnere ich mich wieder an meine Jugendzeit. Für die Wanderungen, die nach einer Rundtour am Schluss wieder ein Stück weit der Anfangsroute folgten, hatte ich für mich den Begriff «Teppichklopferlauf» kreiert. Zeichnet man die Route auf, so gleicht sie einem Teppichklopfer mit Stiel. Nach einer Stunde und vierzig Minuten bin ich wieder am Ausgangspunkt, Bahnhof Leimbach. Leicht verschwitzt und glücklich.

Anfängerglück: Die Schlinge

Wie aus einer einfachen Route ein Hochrisikospiel wird. Zum Thema Vandalismus am Fels

Das Steinschlagnetz bei der Route Anfängerglück.

Da hing sie, sauber in eine felsenfeste Sanduhr gefädelt, gelegentlich auch wieder von Kletterern ersetzt, die sich um die Sicherheit ihrer Kolleginnen und Kollegen sorgen: die Schlinge. Und nun sie einfach weg. Ohne Ersatz. Abgeschnitten, ein Rest klemmt noch im Spalt. Die Sicherung – gewiss nicht so sicher wie ein guter Bohrhaken – fehlte. Letzte Woche und auch gestern klettere ich wieder mal, nach längerer Zeit, die Route «Anfängerglück» auf der Galerie. Sie ist ein Klassiker und gehört zur Geschichte dieses Klettergartens, seit wohl dreissig Jahren. Sie war unsere erste Route und schon damals hing da die Schlinge, die einem die Stufe bis zum nächsten Bohrhaken mindestens psychisch absicherte. Denn der nächste steckt in einer glatten Platte, und um ihn einzuhängen brauchen kleine Leute wie ich relativ kleine Krallgriffe. Man könnte also, im schlimmsten Fall, stürzen. Gut, ich kenne die Stelle, ich weiss, wie sie geht und besonders schwer ist sie ja auch nicht. Ich klettere sie auch ohne die Schlinge, ich weiss ja, was kommt. Aber es ist wahrscheinlich, dass hier auch Anfänger ihre ersten Kletterschritte auf der Galerie versuchen möchten, der Name lädt ein dazu und auch der Schwierigkeitsgrad: 6a+. Und für die könnte es doch recht kritisch werden.

Die Route hat sich verändert im Lauf der Jahre. Durch den Bau der Steinschlagnetze ist der untere Teil durch eine, von Transa gesponserte Leiter überbrückt worden. Sie beginnt nun bei einem Stahlpfeiler der gigantischen Steinschlagnetze, die der Kanton vor einigen Jahren in die Wand spannte und damit einige Routen teilweise oder ganz zerstörte. (Siehe Beitrag: Das Ende von Anfängerglück.) Nach dem zweiten Bohrhaken folgt die Stelle mit der nun fehlenden Schlinge. Vier Meter sind es ungefähr bis zum nächsten Haken, das ergibt mindestens acht Meter Sturz. Ist man gerade mit Einhängen beschäftigt, eine Hand in einen kleinen Griff gekrallt, die Füsse auf etwas abschüssigen Tritten, dann ergibt das der Seildehnung einen Zehnmetersturz – direkt auf den Stahlträger des Steinschlagnetzes. Es ist also sozusagen ein Selbstmordversuch, diese Stelle zu klettern.

Wer die Schlinge abgeschnitten hat, ohne für eine Ersatzsicherung mit einer neuen oder einem Bohrhaken zu sorgen, ist entweder sträflich gedankenlos, ein narzistischer Schwerkletterer oder schlicht ein Vandale am Fels. Aus einer schönen Route für Anfänger ist damit ein Hochrisikospiel geworden.

Der Gärtner von Santa Caterina

Überraschende Begegnung im botanischen Garten der Einsiedelei von Santa Caterina oberhalb von Rio nell’ Elba. Die letzte von zehn Wanderungen auf der Insel.

Am Weg zum Monte Serra besuchen wir die Einsiedelei Eremo di Santa Caterina, eine Kapelle aus dem 17. Jahrhundert, Gemäuer aus dem frühen Mittelalter. Doch was uns lockt, ist der botanische Garten mit den einheimischen Pflanzen der Insel, Orto dei Semplici Elbano. Eingerichtet vom Botaniker-Ehepaar Garbari/Corsi aus Pisa. Ein stiller Ort der Einkehr, meditative Aura, gepflegte Gartenanlagen zwischen Trockenmauern, eingeteilt in Bereiche mit so poetischen Namen wie «Garten der Schmetterlinge» oder «Die heiligen Pflanzen der antiken Zivilisationen». Wir vergleichen die Blumen mit jenen, die wir auf unseren Wanderungen immer wieder angetroffen und zu bestimmt versucht haben. Zistrosen, Wegwarten, Schopflavendel, Binsenginster und endlich auch Salbei, nach dem wir immer wieder vergeblich gesucht haben.

Eintritt frei, Kollekte erwünscht. Ein älterer Gärtner glättet mit dem Rechen die Kieswege, schweigend in sich gekehrt, als beachte er die wenigen Besucher nicht. (Den Ort erreicht man nur zu Fuss.) Gelegentlich pickt er mit einem speziellen Instrument Blätter auf vom Boden auf, oder auch mal einen Papierfetzen. Dieser botanische Garten zeigt sich in perfekter Ordnung, die Pflanzen sauber beschriftet. Oberhalb der Salbeibüsche unter jungen Olivenbäumen stehen Bienenkästen in der blühenden Wiese. Honig mit von Hand geschriebenen Etiketten gibt es beim Wärterhäuschen zu kaufen. Dazu ein Produkt in kleinen Fläschen mit Pipette, Propolis. Es ist ein von Bienen gesammeltes Harz, ein altes Desinfektionsmittel zur Behandlung von Wunden und natürliches Antibiotikum, wie uns der Gärtner erklärt, der inzwischen recht gesprächig geworden ist. Wir verstehen nicht alles, kaufen aber ein Fläschchen und erfahren, dass der Gärtner seit vierzig Jahren Bienen züchtet. Zuvor sei er Radprofi gewesen, auch in der Schweiz gefahren, Tour de Romandie, Tour de Suisse, Tour de France und eine Etappe des Giro d’Italia habe er gewonnen, Parma-Savona 1969. Er gibt uns seine Visitenkarte. Ballini Roberto, Allevatore di Api regine. Züchter von Bienenköniginnen.

Dass wir auf den Monte Serra wandern wollen, direkt den Hang hinauf auf den Berg, an dem sich die Einsiedelei auf halber Höhe befindet, ein Hügel in unseren Augen, passt ihm gar nicht. Vehement will er uns zurückhalten, kein Weg sei da hinauf, und es hätten sich schon viele Wanderer verirrt. Schliesslich einigen wir uns mit ihm darauf, dass wir es versuchen und, falls es nicht geht, zurückkehren werden. Auch ziehen Nebel über den Grat, verhüllen unser Wanderziel. Wir folgen dann tatsächlich zu weit dem Weg, der von unserem Berg wegführt, finden dann dank unserem GPS-Track den Aufstieg durch Gebüsch und über Schutt und Steinplatten auf den Pfad, der uns schliesslich zum Gipfel führt. Aus dem Nebel fällt leichter Regen, so dass wir gleich weiterwandern, über den Grat, dann nach kurzer Rast hinab auf einen Pass, wo schon wieder die Sonne scheint. So dass wir weiterwandern über den Monte Strega und den Monte Campanello, auf schotterigem Weg steil direkt hinauf auf dem Grat und wieder hinunter.

Es ist ein Stück der Grande Traversata Elbana GTE, ziemlich unangenehm zum Gehen im steilen Schotter und durch die Wegführung ohne Kehren der Erosion ausgesetzt. Biker kommen uns entgegen, wir treten zur Seite, grusslos holpern sie vorbei auf diesem rollenden und kollernden Untergrund und beschleunigen die Erosion noch. Wie diese Hänge aussehen in zehn oder zwanzig Jahren mögen wir uns nicht vorstellen.

Inzwischen ist der Himmel wolkenlos, die Luft heiss. Die Gelateria am schönen Hauptplatz von Rio nell’ Elba hat noch nicht auf Saisonbetrieb umgestellt, so dass wir das Glacé dann erst unten am Hafen von Rio Marina schlecken können.

Aufs Matterhorn von Elba

Eigentlich heisst dieser Berg an der Nordwestküste von Elba Monte Giove, 855 Meter über Meer. Wie geschaffen für den Einstieg in zwei Wanderwochen auf Napoleons Spuren.

«Schau doch auch mal auf die Landschaft und den Weg und nicht nur aufs GPS», mahnt meine Begleiterin. Allerdings, von der Landschaft ist noch wenig zu sehen. Rundum Zwergeichengebüsch, auch mal Kastanien oder Erdbeerbäume oder Totholz mit Efeu überwuchert. Macchia eben. Der Weg ist gut, mit Steinplatten belegt, gesäumt von Trockenmauern. Diente der Bewirtschaftung der Terrassen, die sich hoch hinaufziehen an den Hängen. Überwachsen, verlassen, dem Zerfall geweiht, Relikte einer kargen Landwirtschaft, die der Selbstversorgung der Insel diente. Heute kommt die Nahrung per Lastwagen und Fähre auf die Insel, das Geld aus dem Tourismus. Von uns also.
Schon wieder schaue ich aufs GPS. Zum ersten Mal bin ich mit so einem modernen Orientierungsinstrument unterwegs. Irgendwie habe ich es noch nicht so im Griff, die Einstellungen ändern sich stets, wenn ich es aus dem Hosensack ziehe. Wird sich schon geben, man war ja mal technisch gebildet. In Elba können gelegentlich plötzliche Nebel einfallen, habe ich gelesen, wie sich dann orientieren in diesem botanischen Labyrinth? Ich habe ein Wanderbüchlein gekauft, mit genauen Beschreibungen, die ich auch als Tracks herunterladen konnte. Rote Linien auf dem kleinen Bildschirm mit einem Pfeil, der zeigt, wo wir uns gerade befinden. Dazu Karten, also Orientierungshilfen im Überfluss. Nun sind wir auf gutem Weg, aber der Pfeil zeigt plötzlich neben den Track. Doch wo Track ist, ist kein Weg. Fake News also auch hier? Irgendwann sind wir dann wieder auf Track. Auch die Wegnummern, die gelegentlich auftauchen, stimmen mit denen im Wanderbüchlein nicht überein. Wie wir später erfahren, hat die Verwaltung des Naturparks «Parco Nazionale dell’ Archipelago Toscano» vor Kurzem alle Wege umnummeriert.

Nun ja, um es vorweg zu nehmen: wir haben den Gipfel gefunden und auch ein weiteres Dutzend Wanderwege, gelegentlich sogar dank meines kleinen Geräts, auf das ich nicht immer nur blicke, aber doch gelegentlich. Sicher ist sicher.
Nach einem Aussichtspunkt stossen wir auf den Kreuzweg zum Sanctuario Madonna del Monte mit Kirche, Rastplatz und zu dieser Jahreszeit noch geschlossener Bar. Napoleon hat sich hier wohl mal herumgetrieben, lesen wir auf einer Tafel. In der Nähe gibt’s bizarre Felsgebilde mit ein paar Kletterrouten, die wir zwei Tage später besichtigen, doch bleiben Seil, Klettergürtel und Expressen im Rucksack und das für den ganzen Rest unserer Inselferien. Nicht so unser Stil, finden wir. Zu kurz, zu hart, zu rau für die Finger.
Weiter also, durch Buschwald und Schrofen hinauf aufs Elbaner Matterhorn! Ein schön geformter Doppelgipfel, der eine mit telematischen Metallkonstruktionen bestückt und eingezäunt, der andere in leichter Blockkraxelei zugänglich für einen ersten Höhepunkt unserer Wanderferien. Während wir uns dem in gemächlichem Berglerschritt nähern, ausgerüstet wie für einen Dreitausender in den Alpen (aber wenigstens ohne Wanderstöcke!), überholen uns junge Leute in kurzen Hosen und leichten Schuhen und mit wenig Ballast.
Dann fällt der Blick weit übers Ligurische Meer im Norden, über das wir einen Gruss nach Finale schicken, Korsika im Westen liegt leider im Dunst. Nebenan der Monte Capanne, mit 1018 Metern höchster Gipfel der Insel, auch der bestückt mit viel Antennengerüst, einer Bar mit Aussichtplattform, einer Seilbahnstation für ein lustiges und luftiges Transportmittel mit schmalen Körben, in die zwei Menschen oder – wie wir zwei Tage später feststellen – ein Mensch und ein Hund passen. Sofern der Hund will natürlich.
Monte Capanne und viele andere Ziele liegen also noch vor uns. Schöne historische Wanderwege auch und solche, die vom vielen Wandern und Biken und von wühlenden Wildschweinen zerstört worden sind, von der Erosion ausgewaschen zu zwei Meter tiefen Runsen. Das vielleicht einer der Wermutstropfen während unserer Zeit auf der Insel.
Den Kletteführer haben also nicht gebraucht, und doch hat er uns zu einem Ziel geführt. Der feinen und freundlichen Pensione Da Annamaria in Chiessi an der Costa del Sole im Südwesten, Ausgangspunkt für schöne Wanderungen und allenfalls auch Kletterrouten. Und Ort für feines Essen. Was wieder einmal beweist: Die beste Unterkunft findest du nicht im Wanderbüchlein oder Touristenguide, sondern im Kletterführer.

Letzter Versuch

«Herr es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.» Es ist zwar kein Herbsttag, wie in Rilkes Gedicht. Frühling ist es, aber Herbst im übertragenen Sinn. Ein Abschied.

Nach dem dritten Haken ist Ende. Ich weiss genau, wie das hier geht, doch Wissen allein ist nicht Macht, wie eine Redensart glauben macht. Ich weiss es genau. Hundertmal geschafft. Vielleicht auch nur siebenundsiebzig oder sechsundfünfzig. Das letzte Mal vor acht Jahren: 17. Juni 2010. Ich weiss das, weil mich Marco Volken fotografiert hat. Pizza Buch, die Kultroute. Jeden Griff, jeden Tritt kenne ich im Schlaf. Stelle ich mir vor, wenn ich nicht einschlafen kann. Und jetzt das. Ich weiss genau, wie es geht, aber es geht einfach nicht. Ich kann den Griff nicht halten, es fehlt die Kraft. Die Freunde feuern mich an. Es hat keinen Zweck – das hat Klettern ja ohnehin nicht – und ist man überfordert, erst recht nicht. Es wäre so schön gewesen. Noch einmal wie einst, so leicht und beschwingt und im Bewusstsein: es geht, es geht wie immer. Doch ein Immer gibt es nicht, wie man weiss, aber nicht wahrhaben will.
Es gibt Menschen, die wissen genau, wann es Zeit ist für den Abschied. So wie Rilke in dem wunderbaren Gedicht schreibt. «Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren. Und auf den Fluren lass die Winde los.» Es gibt Menschen, die den Herbst geniessen können. Befreit von allen Zwängen. Ich gehöre offenbar nicht dazu. Ich hadere und weiss doch, dass das alles nur schwerer macht. Es wäre so schön gewesen. Die Bedingungen bestens. Zwei gute Freunde, die Haken sind eingehängt, was alles einfacher macht. Ich fühlte mich gut in Form, obwohl, schon eigentlich zu viel geklettert an dem Tag. Ich wusste, wenn es einen Moment gegeben hat, während den letzten Jahre, dann ist es dieser. Zwei oder drei Versuche hatte ich noch gemacht im Lauf der Zeit, bin zum Schlüsselzug gekommen, gescheitert. Heute kein Hauch einer Chance, auch nur den zu erreichen, zwei Haken weiter oben. Den Zangengriff, den Untergriff, das Zweifingerloch. Die Griffe und Tritte, die sind wie alte Bekannte, Stationen eines Wegs, den man immer wieder gegangen ist. Real und noch viel mehr in Gedanken, in Träumen.
«Die Route ist schwerer geworden», trösten mich die guten Freunde, «abgespeckt, rutschig». Sie schaffen das noch immer leicht, obwohl auch nicht mehr die Jüngsten. Guter Trost ist teuer. Ich weiss doch genau, älter werden ist ein unablässiger Abschied. Heute, morgen, jeder Tag. Viele Abschiede sind mir leichter gefallen. Ein Haus verkauft, eine Arbeitsstelle aufgegeben, einen Beruf verlassen, ein eigenes Unternehmen beendet, Manuskripte in die Schublade gesteckt,eine Mulde mit Möbeln, Geräten, mit Alltagsgegenständen eines langen Lebens gefüllt. Warum mir gerade dieser Abschied so schwer fällt, ist mir letztlich ein Rätsel. Es ist das Irrationale, das mich in diese seltsame felsige Welt treibt, diese tiefe Sehnsucht, deren eigentlicher Grund mir verschlossen bleibt. Für immer wohl.

(Foto Marco Volken)