La montagna scritta

Ein unverzichtbares Werk für LiebhaberInnen von Bergbüchern und Bibliotheken. Ein paar Wörter Italienisch helfen beim Anschauen und Lesen. Aber zuerst muss es überhaupt gefunden werden.

«Man kann sich denken, wie wohlwollend der Alpinist aufgenommen wurde, als er einen Stuhl heranrückte, um an einer Ecke des Kamins eine lehrreiche Unterhaltung anzuknüpfen. Oben von den beiden Säulenfiguren herab traf ihn auf einmal einer jener kalten Luftzüge, die er so sehr scheute; er stand auf, schritt durch den Saal, eben sowohl um sich etwas Haltung zu geben, als um sich zu erwärmen, und öffnete darauf die Tür zum Nebensaal. Einige englische Romane lagen umher, da und dort auch eine schwere Bibel und einzelne Bände vom Jahrbuch des Schweizer Alpen-Clubs; er nahm einen derselben an sich, in der Absicht, ihn im Bette zu lesen, musste ihn aber an der Türe zurücklassen, da die Hausordnung es nicht gestattete, Bücher aus der Bibliothek auf die Zimmer zu tragen.»

Mehrfaches Pech für den Alpinisten im Hotel Rigi-Kulm! Eine lebhafte Diskussion im Salon wird mit missbilligenden Blicken ebenso verhindert wie die Mitnahme eines Bergbuches aus der Bibliothek ins Zimmer. Dass es draussen noch wie aus Kübeln regnet, wird die Stimmung von Tartarin nicht gehoben haben. Tartarin also, der Held in drei Romanen von Alphonse Daudet. Im zweiten schickt er die Hauptfigur von den nach Lavendel duftenden Hügeln zwischen Avignon und Arles in die schnee- und sturmgepeitschte Gipfelwelt der Schweizer Alpen. Mit der Besteigung eines stolzen Alpengipfels (die Rigi wählt er nur zum Training aus) kann Tartarin seine Wiederwahl als P.C.A, als Präsident des Club des Alpines in Tarascon, sichern. Das ist nötig geworden, weil ein Klubkamerad ihm diese Stellung streitig macht. „Tartarin sur les Alpes“ erschien 1885. Das Cover der Erstausgabe ist die allerletzte Illustration in einem reich illustrierten, zweibändigen und in einem Schuber steckenden Werk, darin es um Bergbücher und Bibliotheken geht: „La montagna scritta.Viaggio alla scoperta della Biblioteca Nazionale del Club Alpino Italiano.”

„Der geschriebene Berg. Reise zur Entdeckung der Nationalbibliothek des italienischen Alpenvereins“ gibt einen umfassenden Überblick über das aussergewöhnliche bibliothekarische Erbe, das die Bibliothek in den 160 Jahren ihres Bestehens gesammelt hat. Im ersten Band finden sich ein reichhaltiger und reich dokumentierter Essay über die altehrwürdige Bibliothek sowie Kapitel, die die Beziehung zum Circolo Geografico Italiano beleuchten, die Korrespondenzen von Guido Rey/Émile Gaillard und Giovanni Bobba/Casimiro Thérisod analysieren und bisher unveröffentlichte Fakten und Dokumente über die Erstbesteigung des Mont Blanc enthüllen. Es folgen Aufsätze über die Bergliteratur für Kinder, das Bergsteigen im Gran Sasso, den Frauenalpinismus, das aussereuropäische Bergsteigen, den Chorgesang und die Literaturgeschichte des Skisports. Im zweiten Band folgt ein Rundgang durch die wichtigsten europäischen Bergbibliotheken, darunter die Zentralbibliothek des Schweizer Alpen-Clubs in der ZB Zürich. Im Weiteren gibt es Aufsätze zur Bergmedizin, Glaziologie, Geologie, Botanik, Meteorologie sowie zum Ursprung des Bergsteigens in der europäischen Kulturgeschichte. Am Schluss der beiden Bände werden auf Farbtafeln jeweils bedeutende Werke der Biblioteca Nazionale del Club Alpino Italiano gezeigt, mit dem unverwüstlichen Tartarin als Schlusspunkt.

So schwierig, wie es für den Alpinisten aus Tarascon war, sich im Hotel Rigi-Kulm passend zu benehmen, so schwierig war es für mich, „La montagna scritta“ in einer Buchhandlung in Italien zu finden. In der Libreria Buona Stampa in Courmayeur wurde ich im März 2023 fündig. Also in diesem Dorf auf der italienischen Seite des Monte Bianco, in das sich Tartarin nach seinem vermeintlich tödlichen Absturz am Gipfelgrat des höchsten Gipfels der Alpen retten konnte. „In dem Hotel, in welchem er Unterkunft fand, war von nichts anderem die Rede als von einer fürchterlichen Katastrophe auf dem Mont Blanc, die ganz und gar an das Unglück auf dem Matterhorn erinnerte. Wieder ein Alpinist, der infolge Durchschneidens des Seiles in den Abgrund gestürzt war.“

PS: Die Zeitschrift des Club Alpino Italiano hat seit März 2023 ein neues Format und einen neuen Namen, die an frühere Ausgaben anknüpfen: „La Rivista del Club Alpino Italiano“. Die n° 1 widmet sich „L’altra neve“, mit Artikeln wie „Il gioco dell’inverno. Dalla corsa agli ski al cambiamento climatico.“

La montagna scritta. Viaggio alla scoperta della Biblioteca Nazionale del Club Alpino Italiano. A cura di Gianluigi Montresor e Alessandra Ravelli. CAI, Milano – Torino 2021. € 35,00. https://store.cai.it/varia/368-la-montagna-scritta.html

Die Biblioteca Nazionale del Club Alpino Italiano ist im Museo Nazionale della Montagna “Duca degli Abruzzi“ in Torino untergebracht: https://www.museomontagna.org/area-documentazione/biblioteca-nazionale-cai/

Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen. Die Besteigung der Jungfrau und andere Heldentaten. AS Verlag, Zürich 2011, Fr. 29.80.

Billi Bierling in Bern, Kathmandu und am Everest

Ein 8000er-Buch mit einem atemberaubenden Titel: Ich hab ein Rad in Kathmandu. Viel Spass beim Mitradeln!

«An diesen Moment erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Es war wohl im Januar, vor ziemlich genau 20 Jahren. Ein Föhntag, blauer Himmel, einzelne Linsenwolken. Die Stadt Bern leuchtete. Ich hatte es in meiner Wohnung in der Wyttenbachstrasse nicht mehr ausgehalten und war zu einem Spaziergang aufgebrochen, was auf den Krücken anstrengend war und lange dauerte. Vom Breitenrain humpelte ich am Kursaal vorbei in Richtung Aare. Als ich über die Kornhausbrücke den Fluss überquerte, standen sie direkt vor mir: Eiger, Mönch und Jungfrau, das Dreigestirn der Berner Alpen. Auf ihre Gipfel hatte ich es noch nicht geschafft, obwohl ich in den beiden vergangenen Jahren, seit ich als Journalistin in der Schweiz arbeitete, einige große Bergtouren unternommen hatte mit den vielen netten Menschen, die ich in dieser Zeit kennengelernt hatte.»

Was für ein Auftakt einer Biografie, die uns von der Kornhausbrücke in Bern über zahlreiche Abgründe und Höhepunkte hinweg bis auf den Everest und darüber hinaus mitnimmt. Mit „Ganz unten und ganz oben“ ist das erste Kapitel treffend überschrieben im Buch „Ich hab ein Rad in Kathmandu. Mein Leben mit den Achttausendern“, verfasst von Billi Bierling zusammen mit Karin Steinbach. Beide Frauen wurden vor gut fünfzig Jahren in Bayern geboren, beide haben heute ebenfalls den Schweizer Pass, und beide arbeiten (auch) als Alpinjournalistinnen. Ein Dreamteam also, das hier den Lebenslauf dieser Barbara Susanne Bierling erzählt, der damals, als sie über die Kornhausbrücke humpelte, ein für alle Mal klar wurde, „dass es mich in die Berge zog“.

Seit 2004 arbeitet Billi Bierling für die von der legendären Elizabeth Hawley gegründeten Himalayan Database in Kathmandu, sammelt Details zu Besteigungen von Expeditionen aus allen Ländern der Erde und trifft dafür alle, die Rang und Namen haben. Billi Bierling gilt als die Expertin für das Höhenbergsteigen im Himalaya; in der Database sind heute 469 Gipfel zwischen 6500 und 8848 Metern klassifiziert. So nebenbei hat sie selbst sechs der 14 Achttausender bestiegen, so am 21. Mai 2009 den Everest über die Südroute von nepalesischer Seite. Die erste Deutsche auf dem höchsten Gipfel der Welt, Hannelose Schmatz, hatte 1979 den Aufstieg über diese Route geschafft, kam aber beim Abstieg ums Leben.

Zugleich ist Billi Bierling aber ebenfalls für die Humanitäre Hilfe der Schweiz weltweit unterwegs an den globalen Krisenherden, begegnet dort Menschen und ihren Erfahrungen, Erfolgen und Schicksalen – ganz aktuell auch in der Ukraine, insbesondere in Kyiv. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer bevorzugen diese Schreibweise für die Hauptstadt, weil sich „Kiew“ vom Russischen ableitet. Verdienstvoll also, wenn Bergbücher nicht nur vom freiwilligen Überleben in menschenfeindlichen Gebirgen und Felsen berichten, sondern auch vom täglichen Überleben in Umständen, die Menschen mit Gewalt oder Geringschätzung verursacht haben.

Anschaulich und vielschichtig, wie Billi (mit Karin) von Extremalpinisten und Flüchtlingen, von der Arbeit beim Swiss Radio International in Bern und von derjenigen mit der Himalayan Database erzählt, vom Einsatz für Menschen in Kriegs- und Katastrophengebieten, vom Leben in Nepal und der sich wandelnden Bedeutung der Sherpas. Und sie blickt hinter die Kulissen des Höhenbergsteigens, beispielweise mit dem italienischen Höhenbergsteiger und Helikopterpiloten Simone Moro bei einem Kaffee im Marriott Hotel in Kathmandu im Frühling 2022: „Stell dir vor, manche Leute waren bereits im Everest-Basislager und merkten erst da, dass sie keine oder nicht die richtigen Expeditionsbergschuhe dabeihatten. Ich besorgte verschiedene Modelle und Größen und flog sie ins Basislager. Dort wurde anprobiert, ich kassierte und flog wieder zurück.“ Einmal brachte er mit seinem Heli gar zwölf Pizzas von Kathmandu ins Basislager. Billi Bierling holt sich die Pizzas selbst, mit dem Rad. Und wenn es sein muss(te), auch mit Krücken.

Billi Bierling mit Karin Steinbach: Ich hab ein Rad in Kathmandu. Mein Leben mit den Achttausendern. Mit einem Vorwort von Gerlinde Kaltenbrunner. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2023. € 28,00.

Vortrag und Buchpräsentation mit den beiden Autorinnen am Freitag, 31. März 2023, 18.30 Uhr, im Alpinen Museum der Schweiz in Bern. Eintritt Fr. 15.-; Tickets können direkt an der Abendkasse bezogen werden, kein Vorverkauf.

Gabriel Loppé im Forte di Bard

Gemalte Berge eröffnen neue Perspektiven – zu erleben mit Gabriel Loppé im Forte di Bard in der Valle d’Aosta und mit dem aktuellen Katalog „Peaks & Glaciers“.

«Mein lieber Loppé, es ist nun einundzwanzig Jahre her, daß wir zusammen den Sonnenuntergang vom Gipfel des Montblancs genossen. Vor nicht ganz einem Jahr erlebten wir dieses Schauspiel am Fuße des Berges. (…) Ihnen widme ich die Neuausgabe meines alten Buches, das die Freuden des Alpenwanderns schildert. (…) Immer ihr Leslie Stephen» Der Titel dieses alten Buches war sozusagen Programm für das goldene Zeitalter des Alpinismus im 19. Jahrhundert, ja ist es überhaupt für den Bergsport in den Alpen und anderswo: „The Playground of Europe“. Die Originalausgabe erschien 1871, die zweite, leicht veränderte und mit der Widmung an Gabriel Loppé versehene Ausgabe 1894. Sie ist auch in der ersten deutschen Ausgabe „Der Tummelplatz Europas“ von 1936 zu finden. Am 4. September 1871 standen der Franzose Loppé und der Engländer Stephen als erste auf dem Mont Mallet (3989 m), einem etwas übersehehen Gipfel zwischen der Dent Géant und den Grandes Jorasses. Mit dabei bei der Erstbesteigung waren Stephens Landsmann Frederick Anthony Wallroth sowie die Führer Melchior Anderegg aus Meiringen, François Cachat und Alexandre Tournier aus Chamonix. Ein erster Versuch hatte am 2. September stattgefunden. Zwei Tage später fand Anderegg die richtige Route, nach der Erkundigung kam er zurück mit dieser Ankündigung: „lt will be very difficult, but go we must“. So Stephen im Artikel „Round Mont Blanc“ im „Alpine Journal“ vom Februar 1872. Gehen müssen wir bis Mitte Januar 2024 ins Forte di Bard, in dieses grossmächtige Festungswerk im unteren Aostatal, das zu einem verwinkelten Museum zu verschiedenen Themen umgebaut wurde. Feste Hauptausstellung ist das alpine Museum, das alleine einen Besuch lohnt, neben der ganzen Festung. Nun aber hat im Forte di Bard der Galerist und Alpinist William Mitchell zusammen mit seiner Kollegin Anne Friang von den Amis de Gabriel Loppé die bisher grösste Ausstellung über das Leben und das Werk von Loppé unter dem Titel „artista, alpinista und viaggiatore“ zusammengestellt. Gezeigt werden über 100 Gemälde, Zeichnungen, Fotografien und zum ersten Mal Loppés Kletterausrüstung. Zur Ausstellung ist ein 210-seitiger, vollständig illustrierter Ausstellungskatalog auf Italienisch, Französisch und Englisch erschienen. Mehr zu Loppé als Künstler, Bergsteiger und Fotograf hier: https://bergliteratur.ch/gabriel-loppe-peintre-alpiniste/. Sofort anschauen müssen wir zudem den aktuellen Katalog „Peak & Glaciers 2023“ von William Mitchell. Erstens erzählt er darin von seinen Touren und von der Loppé-Ausstellung. Zweitens werden darin zahlreiche hochkarätige Berggemälde vorgestellt und zum Kauf angeboten, darunter auch eines von Loppé. Wer noch kein Matterhorn-Gemälde aufgehängt hat, hat die Qual der Wahl zwischen Ansichten von Zermatt bzw. von Breuil. Das Wetterhorn ist dreimal abgebildet, am besten gefällt mir „The Wetterhorn in winter“ von Charles-Henri Contencin, mit einer Skispur im Vordergrund. Das Matterhorn ist neben dem Mont Blanc der Star der Ausstellung im Forte di Bard. Grossartig das Winterbild, das Loppé 1887 von unterhalb Zermatt gemalt hat, mit dem ersten Anblick des Horu, wenn man sich dem Dorf nähert. Eiskalter Vordergrund mit der Vispa, sonnenbestrahlte Schneehänge hinten. Grad umgekehrt die Aufteilung von Sonne und Schatten im Gemälde vom 13. Februar 1889 mit dem falschen Titel „La cimetière d’Engelberg, en hiver, Oberland Bernois“. Es zeigt verschneite Grabkreuze im Vordergrund, im Hintergrund den Unteren Grindelwaldgletscher und die Abstürze des Eigerhörnlis. Anne Friang, William Mitchell: Gabriel Loppé – artista, alpinista e viaggiatore. Forte di Bard editore, Bard Aosta 2022, € 29,00. Gabriel Loppé – artista, alpinista e viaggiatore. Ausstellung im Museo delle Alpi des Forte de Bard im Valle d’Aosta, bis am 14. Januar 2024. www.fortedibard.it/mostre/gabriel-loppe-artista-alpinista-e-viaggiatore Bis am 10. April 2023 ist im Forte di Bard noch folgende, ebenfalls sehr empfehlenswerte Ausstellung zu sehen: Il déco in Italia. L’eleganza della modernità. Peaks & Glaciers 2023. 22nd February – 31st March 2023. John Mitchell Fine Paintings, 17 Avery Row, Brook Street, London. Monday – Friday 10.00-17.00. Der Weg zum Katalog: https://mcusercontent.com/5bbd4a870af518e7b20caea38/files/0452b5ac-2d5e-60a0-10bb-042f961265d1/Peaks_Glaciers_2023_catalogue.pdf

Matterzorn und andere Bergkrimis

Tod in Bergen: Das passiert leider. Manchmal auch mit Absicht. Aufpassen also, im Chalet am Gletscher so gut wie im Berggasthaus.

»Das ist nichts für mich. Die Anstrengung, diese Gletscherspalten«, seufzte Spyros und kramte im Rucksack nach einem Schokoriegel.
»Jetzt hör auf damit, dir dauernd etwas in den Mund zu stopfen. Schau dir diese dunklen Wolken hinter dem Matterhorn an. Wenn die uns erreichen, sind wir geliefert«, mahnte Hendrik und setzte einen vorsichtigen Schritt auf die Eisbrücke.
»Welches Matterhorn?«, fragte Spyros und sah sich ahnungslos um.

Fragt sich bloss, ob Spyros, Koch und Influencer auf einer Finca in Mallorca, das Matterhorn einfach nicht kannte – oder nicht mehr sah, weil es die heranstürmende Schlechtwetterfront bereits verschluckt hat? Ob er und Hendrik, ebenfalls Influencer, aber nicht als Koch-, sondern als Lebenskünstler rund um den Globus, das nigelnagelneue Chalet überhaupt erreichen werden, quer über den mit eiskalten, abgründigen Spalten aufwartenden Gornergletscher hinweg? Über dieses Domizil sollen die beiden Männer zusammen mit den Influencerinnen Anni, Alex und Tucker verlockende Beiträge auf Instagram hochladen. Als Belohnung winken 100‘000 Dollar – unter zwei Bedingungen: Niemand darf das Messner-Chalet verlassen, und es darf nur positiv berichtet werden. Ob das gut geht? Nein, natürlich nicht! Was wär das sonst für ein Psychothriller?

»Wir werden es gemeinsam rausschaffen«, erwiderte Valeria. »Mach dir keine Sorgen.«
Maria sagte nichts, aber nur zwanzig Minuten später, als sie durch eine Schneedecke stapften, die ihnen bis über die Knie reichte, hörte Valeria ihr Keuchen und sah ihr schmerzverzerrtes Gesicht.
»Komm schon«, sagte sie. »Nur noch ein bisschen weiter.«
»Es ist … so verflucht kalt. Und anstrengend.«

Ob die Ermittlerin Valeria Ravelli und die Angestellte Maria die Flucht aus dem Anwesen eines schwerreichen Geschäftsmannes schaffen werden? Oder holen die bewaffneten Schergen auf ihren Schneemobils die beiden Frauen noch ein? Und geht damit das Wintersterben rund um das nicht lokalisierbare Dorf Steinberg irgendwo in den Walliser Alpen weiter? Wie das Abhauen ausgeht, erfahren die KrimileserInnen ab Seite 352, wenn sie bis dort durchgehalten haben.

»Fahren wir jetzt weiter? Ich habe schon einen ganz kalten Hintern.«
»Ja, aber fahr mir nicht wieder davon, wir müssen immer in Blickkontakt bleiben. Weißt du, was das heißt?«
Lisa nickte. »Aber wie soll das gehen, bei dem vielen Schnee?«

Das fragen sich nicht nur der abgehalfterte Polizist Massimo Capaul und seine Ziehtochter, sondern wohl bald auch die Liftangestellten, die Verwandten und später die Polizei. Denn Massimo und Lisa finden nicht zurück auf die Piste und ins Tal, dafür eine abgelegene Jagdhütte in einem Seitental des Engadins, die sich zum Glück öffnen lässt. Weniger glücklich ist der Fund einer abgeschlagenen Hand, wenigstens für Massimo. Doch er wird, mit tatkräftiger Hilfe von Lisa, auch seinen sechsten Fall lösen, eigentlich fast so nebenbei, denn wenn es schneit und schneit, ist man plötzlich auf sich allein gestellt, in einer Hütte oder dann in einem verdammt abgelegenen Bauernhof. Ob sich dort gar der Mörder versteckt? Selber lesen. Zum Beispiel im Hotel Blatterhof am Fusse des Matterhorns.

»Übergibst du mir morgen die Fotos? Ja oder nein?«
»Hör jetzt auf mit dieser Fragerei. Was ist mir dir los?«
»Ich muss wissen, ob du ein falsches Spiel treibst.«
Elmar trat bedrohlich nah an Klaus ran. Platz zum Ausweichen gab es keinen.
»Es ist mir nicht zum Spaßen. Wie schnell passieren Unfälle in den Bergen. Das möchtest du doch nicht, oder?«

Ob der Abstieg vom Gipfel des Matterhorn, den die Jugendfreunde und Geschäftspartner Elmer und Klaus kurz nach diesem Disput antreten, in Minne oder Zorn ausgeht? Auch diese Frage sei hier nicht beantwortet. Aber sie spielt eine Rolle im Zermatter Kriminalroman um die neue Hotelangestellte Laura Pfeiffer und um alte Dorfseilschaften, bei denen einige Einheimische ein ziemlich falsches Spiel treiben. Am besten zu lesen ebenfalls im Hotel Blatterhof, in einem Engadiner Hexenhäuschen, in der Pension in Steinberg oder natürlich im Chalet Messner am Gornergletscher. Buchen über www.mountainlodge.ch.

André Gebel: Eiskalter Abgrund. Psychothriller. Piper, München 2022. € 20,00.

Martin Krüger: Wintersterben. Thriller. HarperCollins, Hamburg 2022. € 15,00.

Gian Maria Calonder: Engadiner Knochenbruch. Ein Mord für Massimo Capaul. Kampa, Zürich 2022. Fr. 19.90.

Christine Bonvin: Matterzorn. Kriminalroman. Gmeiner, Meßkirch 2023. € 18,00.

PS: Massimo und Lisa verpassen oberhalb Sils im Engadin nicht nur die letzte Bergfahrt, sondern auch die Talfahrt. Nicht verpassen sollte man aber am Donnerstag, 16. März 2023 um 18 Uhr, im Alpinen Museum in Bern den Vortrag „Lost Ski Area Projects“ von Christoph Schuck. Der Professor für Politikwissenschaften und Autor von «Letzte Bergfahrt» verbindet in der Führung durch die Ausstellung „Après-Lift. Skiberge im Wandel“ wissenschaftliche Erkenntnisse mit emotionalen Eindrücken. Anmeldung unter booking@alpinesmuseum.ch oder 031 350 04 42. Kosten: Fr. 15.– inkl. Ausstellungseintritt und Feierabendbier.

Rheinaufwärts

Rheinwanderer einst und jetzt, beide sehr lesenswert.

«…dass ich alles für erzählenswert halte, auch einen Rheinspaziergang von Bad Ragaz nach Landquart.»

Findet Franz Hohler in seinem jüngsten Buch mit dem so simplen wie sinnigen Titel „Rheinaufwärts“. Den erwähnten Spaziergang machte er am 8. April 2021, auf der 13. Tagesetappe der Wanderung vom Rheinfall zur Rheinquelle. Der Start war am 19. Mai 2020 in Schaffhausen erfolgt, und beim Einsteigen in den Zug in Diessenhofen zurück nach Schaffhausen und dann nach Zürich dachte Hohler, „warum wandere ich nicht von hier aus weiter am Rhein entlang, so weit, bis ich zu seiner Quelle komme?“ Am 26. September 2022, am Tag 29 seiner Rheinreise zu Fuss, erreicht Franz den Lai da Tuma, den Ursprung des Rein Anteriur: „Ich gehe zum See hinunter, knie am Ufer nieder, streichle mit der Hand seine Oberfläche und wünsche dem Wasser eine gute Reise.“

Wenn einer erzählen kann… Dann wird aus einer Ufertour Poesie, dann wird aus dem schriftlichen Festhalten vom Aufwärtsgehen am abwärts fliessenden Wasser mehr als Tagebucheinträge, dann werden Campingplätze und Mückenschwärme, Autobahnbrücken und Vogelrufe zu einem so flüchtigen wie tiefgründigen Geflecht von Gegenwärtigem und Erinnertem, Historischem und Biographischem. Die Grossmutter von Hohler, so lesen wir am fünften Tag, wuchs in Sisseln am Rhein auf, und erzählte ihm von den Flössern in ihrem Dorf, „einem Beruf, der rauhe Burschen mit harten Fäusten anzog – sie hat dann einen Weber geheiratet, der für seine Arbeit feine Finger brauchte.“ Er hat sie seinem Enkel vererbt.

In Reichenau fragte sich Franz Hohler am 3. Juni 2021, welchem Rhein er folgen werde, dem Vorder- oder dem Hinterrhein. Er entschied sich für den Vorderen. Vor knapp 200 Jahren wäre er wohl dem Hinteren entlang gewandert, durch die Via Mala und die Roflaschlucht zum Dorf Hinterrhein und weiter gut vier Stunden taleinwärts. Damals galt die Quelle des Hinterrheins am Paradiesgletscher unterhalb des Rheinwaldhorns als die eigentliche des Rheins; der Ort heisst immer noch Ursprung, nur das Eis ist bis zum Gipfelgrat verschwunden.

„Die Hitze des Sommertages und die, vier Stunden weite, Fußwanderung hatten meinen Körper gerade so weit abgespannt, um, in müßiger Ruhe hingestreckt, der Einbildungskraft und ihren Schwingungen die Alleinherrschaft über mich einzuräumen.“ So präzise beschreibt der adelige Bündner Offizier und Jurist Peter Conradin von Tscharner (1786–1841) im Rhein-Kapitel des zweibändigen Werkes „Wanderungen durch die Rhätischen Alpen“ seine Rast am Ursprung. Aus den 1829 und 1831 publizierten Bänden mit dem Untertitel „Ein Beytrag zur Charakteristik dieses Theils des Schweizerischen Hochlandes und seiner Bewohner“ hat nun Andreas Simmen eine feine Auswahl getroffen, sie mit klugem Nachwort und 22 Aquatinten von Johann Jakob Meyer versehen. Doch zurück zum „König der Flüsse“, wie ihn der Hinterrhein-Spaziergänger nennt: „Der dumpfmurmelnde Bach zu meinen Füßen, das einzig Lebende in dieser weiten Gruft, ward mir jetzt zur Quelle stets wechselnder Bilder weithin den Ufern des großen, des gesegneten und gefürchteten Stromes entlang.“ Stark, nicht wahr, wie Schriftsteller von Tscharner, der zeitweise auch als Fabrikunternehmer, Postdirektor und Zeitungsredaktor tätig war, die Gedanken entlang dem Wasser strömen lässt.

Das macht auch Hohler immer wieder. Und im Epilog von „Rheinaufwärts“ notiert der Flusserzähler am 22. Oktober 2022 in Bonn noch drei Sätze: „So sieht er also aus, wenn er erwachsen ist, mein Rhein. Gut hat er’s gemacht. Ich bin stolz auf ihn.“

Heute, 1. März 2023, feiert Franz Hohler seinen 80. Geburtstag. Cordiala gratulaziun!

Franz Hohler: Rheinaufwärts. Luchterhand, München 2023. € 22,00.

Franz Hohler: Buchpremiere von „Rheinaufwärts“ am 2. März 2023 um 20 Uhr im Kaufleuten Zürich, https://kaufleuten.ch/event/franz-hohler-1/
Der Kabarettist und Schriftsteller im Dialog mit Nadja Sieger („Nadeschkin“) am 8. März 2023 um 18 Uhr in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern, Eintritt frei.

Peter Conradin von Tscharner: Wanderungen durch die Rhätischen Alpen. Ein Beytrag zur Charakteristik dieses Theils des Schweizerischen Hochlandes und seiner Bewohner. Ausgewählte Texte. Mit 22 kolorierten Aquatinten von Johann Jakob Meyer. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Andreas Simmen. AS Verlag, Zürich 2023. Fr. 42.80.

Berg 2023 – L’Alpe 100

Ob Jahrbuch oder Vierteljahreszeitschrift: Beide Publikationen warten mit ganz starken Texten und Bildern auf.

«Woher kommt das Wort Schi? Soll man im Deutschen „Schi“ sagen wie im Norwegischen, Italienischen und Ungarischen? Oder „Ski“ wie im Dänischen, Englischen oder Französischen? Soll man im Deutschen Ski oder Schi schreiben? Woher stammen die beiden Schreibweisen? Und welche ist letztlich richtig?»

Fragen über Fragen, mit denen Christoph Höbenreich seinen Beitrag im neuen Alpenvereinsjahrbuch „Berg 2023“ einleitet. Und er gibt in „Fahren wie Ski oder Schi? Historische Schwünge einer sportlichen Schreibweise“ überzeugende und verblüffende Antworten, bis hin zum Abschwung: „In diesem Sinne: Schi und – wer will – Ski Heil!“ Der mit klugen Abbildungen (insbesondere die Shi-nesische Karikatur von Thomas Wizany!) illustrierte Beitrag ist nur einer von vielen, womit die gemeinsame Zeitschrift der Alpenvereine von Deutschland, Österreich und Südtirol auch in diesem Jahr aufwartet.

Schwerpunkte im neuen Band mit der Nr. 147 sind die Wildspitze (3768 m), der höchste Berg Nordtirols und der zweithöchste Österreichs, sowie das Mountainbike. Zur gleichen Zeit, als die Eröffnung der Pitztaler Gletscherbahn 1983 die Wildspitze zur bequemen Tagestour mache, begann in den Alpen der Siegeszug einer anderen Technologie: Das Mountainbike eroberte die Berge – und tut es immer noch, E-Technologie sei dank. In der Rubrik BergSteigen stellt der neue Chronist Andi Dick die Fragen: Welche Leistungen sind es eigentlich wert, festgehalten und herausgestellt zu werden, und nach welchem Massstab trifft der „Gatekeeper der Alpingeschichte“ seine Auswahl? Jochen Hemmleb seinerseits schildert seine persönliche Liaison mit dem höchsten Berg der Welt, der für ihn nicht das Objekt der eigenen alpinistischen Begierde war, sondern eher ein Lebensgefährte, dem er nie zu nah getreten ist. In BergWissen erläutert die Glaziologin Andrea Fischer, wie Gletscher gerade im Prozess ihres Verschwindens der Wissenschaft Kopfzerbrechen bereiten, und der Geograf Werner Bätzing schreibt darüber, warum auch die traditionelle Alpwirtschaft gänzlich zu verschwinden droht und ihre Betreiber kaum noch ernähren kann. Der Fremdenverkehr bietet eine Alternative, kann aber auch zu einer Sackgasse werden, wie Selma Mahlknecht in „Der Preis des Erfolgs. Bergtourismus zwischen Klasse und Masse“ feststellt.

Genau davon handelt das Portfolio in der Jubiläumsnummer der 1998 lancierten französischen Vierteljahreszeitschrift „L’Alpe“. Die mit „Haller 3.0“ eingeleitete Fotostrecke zeigt Aufnahmen von Hans Peter Jost (mehr zu ihm hier: https://bergliteratur.ch/alpen-blicke/). Thema des 100. Heftes sind 7000 Jahre Alpengeschichte(n), von den ersten Siedlern über die Römer und die immer schneller anreisenden Besucher bis zum Verschwinden der Gletscher. Wie üblich höchst lesenswert und brillant bebildert. Am Schluss von N° 100 die Hinweise auf Ausstellungen, Aufführungen und Bücher, zum Beispiel auf „Après-Lift“ im Alpinen Museum in Bern. Da könnte sich die Frage stellen: Après-Ski oder Après-Schi?

Berg 2023. Alpenvereinsjahrbuch 147. Tyrolia Verlag, Innsbruck 2022. € 20,90.

L’Alpe N° 100. Printemps 2023: Alpins. 7000 ans d’histoires. Éditions Glénat, € 18.-, www.lalpe.com.

Rock ’n’ Roll

Ein paar Songzeilen und Buchseiten zu Rockstars im Fels und solchen auf der Bühne.

«Später im Kuckucksnest, unserer dunklen Rock-’n’-Roll-Bar in Berchtesgaden. Wir stehen mit unserer Band Plastic Surgery Disaster endlich wieder auf der Bühne. (…) Nach einer intensiven, laut dröhnenden Stunde kommt unser letzter Song, „Mountain High“. Als meine Jungs den ersten Riff anspielen, eingeflochten in einen melodiösen Basslauf, schließe ich die Augen, und die Bühne wird zu einer metaphysischen Plattform. Die wuchtigen Gitarren bauen sich auf zu steilsten Wänden, und ich stehe mittendrin, umringt von diesen Mauern, darin verborgen eine perfekte Linie, meine Linie, diese Eisspur, die nach rechts ziehende Rampe, und die letzte Verschneidung bis zum Gipfel.»

Auf den ersten Ton vielleicht ungewohnte Bergmusik, die da Thomas Huber (Jg. 1966), Sänger einer deutschen Rock-’n’-Roll-Band und einer der besten Allround-Alpinisten weltweit, in seiner ersten Autobiografie anschlägt. Aber erstens sieht Huber mit seinen langen Haaren und dem wilden Bart schon wie ein Rocksänger aus. Und zweitens bilden Rockmusik und Rockclimbing immer wieder besondere Seilschaften (mehr davon weiter unten).

„In den Bergen ist Freiheit. Ein wildes Leben“ berichtet Thomas, der ältere Bruder der berühmten Huberbuam (Alexander ist zwei Jahre jünger und ebenfalls ein Weltklassebergsteiger), offen wie nie über sein Leben für die Berge, die Musik und die Familie. Ein Leben geprägt von Triumphen und Erstbesteigungen, von Tiefschlägen, vom Wiederaufrappeln und Kämpfen. Das Scheitern ist für Thomas Huber immer auch eine Zwischenstufe zum Erfolg, und seine Hartnäckigkeit (und auch das Glück) half ihm so manche unbezwingbar geglaubte Wand hinauf, in den Alpen so gut wie in der Antarktis, und erst recht im Yosemite Valley, dem Playground der Huberbuam. Das mit 79 farbigen und 2 schwarzweissen Abbildungen illustrierte Buch liest sich fast so flüssig wie die Hubers durch die Granitwände des El Capitan flitzen. Nur der Abschluss wird etwas verpasst, der wunderbar kitschige Abschnitt „Dahoam“ hätte für mein Gehör hätte besser auf die letzte Seite gepasst als jetzt 30 Seiten vorher.

Hören wir noch ein paar Huber-Zeilen: „Es wurde Bier getrunken, geraucht, es wurden Pläne geschmiedet, lustige und heldenhafte Geschichten aus der Kletterwelt erzählt, und dazu hörte man den Sound von The Doors, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Motörhead, Black Sabbath. Janis Joplins Song bracht das Lebensgefühl in dieser verrauchten Kneipe auf den Punkt: ‚Freedom’s just another word for nothing left to loose.‘“

Kletterer denken bei Motörhead vielleicht weniger an die 1975 in London gegründete Rockband als an die gleichnamige Route im Granitklettereldorado ob dem Grimselstausee, erstbegangen von Yves und Claude Rémy im Jahr 1981. Im SAC-Kletterführer „Dreams of Switzerland“ (2016) schreiben die Remybuam: „Wenige Tage nach dem ersten Livealbum der Gruppe Motörhead entstand im Herzen der Alpen die gleichnamige, der Band gewidmete Route. Sie ist Symbiose zweier Kunstformen: harmonische Tonfolgen und perfekte Bewegungen.“

Verblüffende Parallelen zwischen Rockstars auf der Bühne und solchen im Fels zieht „The Alpine Journal 2022“, gerade auch mit Fotos. Wie sich Jim Bridwell und seine beiden Klettergefährten 1975 in hippiefarbigen Kleidern in Pose vor dem El Capitan warfen – wüsste man nicht, dass sie gerade erstmals die berühmte, 1000 Meter hohe Nose in einem Tag durchstiegen haben, glaubte man, eine Rockband habe sich ins Valley verirrt. Dass Mick Jagger in seiner Jugend auch ein Kletterer war, las ich im neuen AJ zum ersten Mal. Aber auch sonst lohnt sich die Lektüre der ältesten Alpinzeitschrift der Welt, zum Beispiel die Studie zu den Felshaken von 1870 bis 1920 sowie eine Schilderung der alpinistischen Exploits der Reiseschriftstellerin Freya Stark.

Und jetzt Bühne frei – für Kris Kristofferson. Er schrieb nämlich 1969 den Country-Song „Me and Bobby McGee“, der durch Janis Joplins Version zum Nummer-eins-Hit wurde: „Freedom’s just another word for nothing left to loose.“ www.youtube.com/watch?v=IOoMREvsV9E

Thomas Hubers: In den Bergen ist Freiheit. Ein wildes Leben. Malik Verlag, München 2022. € 25,00.

Ed Douglas (Hrsg.): The Alpine Journal 2022. Volume 126. The Alpine Club, London 2022; in der Schweiz erhältlich bei www.pizbube.ch, Fr. 38.40.

Blanc et bleu

Sonniger Winter: Schnee in drei Büchern und in einer Ausstellung, in der Feierabendführungen stattfinden.

– D’où viens-tu? dit du Lac
– Nice.
– Parti quand?
– La semaine dernière. Je traverse les Alpes, seul. J’ai appelé mon voyage «Sur les chemins blancs» en hommage à un type qui a traversé la France à pied et écrit un récit: Sur les chemins noirs.
– C’est moi, dis-je.
– C’est drôle, dit du Lac.
– C’est fou, dit Rémoville.

Wirklich verrückt, diese Begegnung im Rifugio Dahu de Sabarnui (1702 m) im Weiler San Bernolfo in den Seealpen! Der Bergführer Daniel du Lac und der Schriftsteller, (Ski)alpinist und Weitwanderer Sylvain Tesson kommen am siebten Tag ihrer Skidurchquerung des ganzen Alpenbogens von Menton nach Trieste in dieser Hütte hinten im Valle Stura di Demonte zufällig am gleichen Terrassentisch zusammen mit Philippe Rémoville, der alleine auf Ski die Alpen durchqueren will. „Désormais nous serions trois dans le Blanc“: So schliesst Tesson den Tageseintrag.

„Blanc“ heisst der Bericht von Tesson über diese Skidurchquerung, die in vier Abschnitten in den Jahren 2018 bis 2021 stattgefunden hat. Ganz einfach „Blanc“. Weiss wie Schnee, weiss wie der Himmel manchmal, weiss wie die unbekannten Wegabschnitte, die das Trio immer wieder entdeckten, begingen und befuhren. Ein Alpenabenteuer meist abseits begangener Routen, mit Schuss und schwungvoll festgehalten von Sylvain Tesson. Ski- und Schneeliteratur vom feinsten. „La traversée blanche serait pour moi le voyage absolu, une flottaison dans une idée de paysage“ steht unten auf Seite 31. Knapp 200 Seiten und 76 Tage weiter im Alpenbogen notiert der Star der französischen Reiseautoren: „On avait vu la mer!“

Weiss und blau: Davon handelt auch „Une histoire de l’exploration neiges et glaces. Des pôles à l’Himalaya“. Ich las das neue Buch von Stéphane Dugast am Mittwoch auf der Fahrt nach Ste-Croix im Waadtländer Jura und zurück, hoffend auf knallblauen Himmel über weissen Feldern. Nun, weiss war es auf dem Hügelzug des Mont des Cerfs tatsächlich, aber den 250 Meter hohen Gipfelhang der Aiguille de Baulmes (1560 m) sah ich erst, als ich an seinem Fuss stand. Immerhin, oben lachte die Sonne über dem halben Alpenbogen; vom Jura hingegen schauten nur die höheren Gipfel aus dem Nebelmeer, ganz schön passend zu den unendlich weissen Flächen, welche die Entdecker und Erwanderer der Arktis und Antarktis vorfanden. Die bestens illustrierte Publikation stellt wichtige Schritte der Erkundigung und Erforschung der beiden Pole und des dritten Pols (Everest) vor, mit leichter Schlagseite zu französischen Erfolgen. So fehlen ein paar Zeilen zu Günter Oskar Dyhrenfurth und seinem Erfolgsbuch „Zum dritten Pol. Die Achttausender der Erde“ von 1952. Und wenn ich schon am rotstifteln bin: Nicht Vittorio Sella machte 1909 die ersten Fotos vom K2, sondern Jules Jacot Guillarmod. Der erste Schweizer im Himalaya und Karakorum fotografierte am 19. Juni 1902 um 6.15 Uhr den zweithöchsten Berg der Welt.

Details, gewiss, aber Zahlen, Fakten, Daten sind nicht ganz unwichtig bei der Geschichtsschreibung. Das weiss natürlich François Walter, von 1986 bis 2012 ordentlicher Professor für Schweizer Geschichte an der Universität Genf. Sein Buch „Hiver. Histoire d’une saison“ erschien 2014. Entdeckt habe ich es aber erst jetzt – und gelesen, aber auf mehr als zwei Zugfahrten zu verschneiten Bergen. Der Winter ist ja eine ungemein spannende Jahreszeit, die sowohl negative als auch positive stereotype Bilder hervorruft. Diese gefürchtete und ungeliebte Jahreszeit wurde im 19. Jahrhundert sowohl mit der Entdeckung der Côte d’Azur als Winterfrische wie mit der Erfindung des Wintersports für viele Touristen und Locals zur Zaubersaison. Der Skisport setzte sich in der Schweiz nach 1920 rasant durch und wurde Teil einer Propaganda, welche die Schweiz zur „Skination“ machte. Ski-Helvetia erlebt an den Skiweltmeisterschaften in Courchevel/Méribel nach vier Rennen und nur einer Silbermedaille zwar grad eine Baisse, insbesondere im Vergleich mit dem Dauerrivalen Österreich. Aber die WM ist noch nicht vorbei, der Winter auch nicht. Ein paar Skitouren sind geplant, hoffentlich mit unten weiss und oben blau . Und einem Après-Skitour-Bier auf sonniger Terrasse.

Apropos Après: Am Dienstag, 28. Februar 2023 von 18 bis 19 Uhr, findet im Alpinen Museum der Schweiz in Bern die Führung „Avant- und Après-Lift“ statt, mit dem Fotografen Olivier Rüegsegger, der für die Ausstellung „Après-Lift. Skiberge im Wandel“ stillgelegte Skilifte ablichtete, und mit Daniel Anker, Autor des Skitourenführers „Après-Lift“. Am Donnerstag, 16. März 2023 von 18 bis 19 Uhr, heisst die Führung „Lost Ski Area Projects“: Bergführer ist diesmal Christoph Schuck, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Autor von „Letzte Bergfahrt. Aufgegebene Skigebiete in der Schweiz und ihre touristische Neuausrichtung“. Bei beiden Anlässen fehlt es nicht an Feierabendbier. Anmeldung je unter www.booking@alpinesmuseum.ch oder 031 350 04 42.

Sylvain Tesson: Blanc. Gallimard, Paris 2022. € 20,00.

Stéphane Dugast: Une histoire de l’exploration neiges et glaces. Des pôles à l’Himalaya. Glénat, Grenoble 2022. € 26,00.

François Walter: Hiver. Histoire d’une saison. Payot & Rivages, Paris 2014, € 25,00.

Mont Blanc – seine Plakate, Seilbahnen und Gemälde

Zwei grossartige Bücher zum Mont Blanc und zur Aiguille du Midi, zu Tourismusplakaten und zu Seilbahnen. Und eine Ausstellung, in der der höchste Gipfel der Alpen im Zentrum steht. À ne pas rater!

«Jules-Abel Faivre ne connaît sans doute pas Chamonix. La manière imprécise dont il dessine le mont Blanc montre qu’il se réfère à une photographie. De même, il n’a sans doute jamais vu de skieur et encore moins de skieuse. Celle qu’il dessine ressemble à une midinette parisienne courant les grands magasins! Elle pose et tient le bâton comme son sac à main. Son regard n’est pas tourné vers la piste et sa position sur les skis laisse entrevoir une chute prochaine qui lui fera perdre son sourire de Joconde et son chapeau à plume. Cette représentation naïve n’est pas pour rien dans le charme de cette affiche qui a connu une grande célébrité.»

Brillant, wie Jean-Charles Giroud das um 1905 geschaffene Plakat „Sports d’hiver Chamonix (Mont-Blanc)“ von Jules-Abel Faivre beschreibt, präzise und mit feinem Spott. Ein berühmtes Poster der schicken Skiläuferin mit dem Mona-Lisa-Lächeln; es lässt sich bestellen, zum Beispiel bei www.heritage-posters.co.uk. Und es lässt sich bewundern im ausgezeichneten Werk „Le Mont Blanc s’affiche!“.

Jean-Charles Giroud, ehemaliger Direktor der Bibliothèque de Genève, besitzt eine grosse Plakatsammlung und hat schon mehrere Publikationen dazu verfasst; vgl. auch https://bergliteratur.ch/fruehlingsschnee/. Im neuen Werk stellt er 71 touristische Plakate zwischen 1854 und 2006 vor, mit dem Schwerpunkt erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. So einfallsreich, so farbig, so überraschend, so grafisch perfekt wurden damals die Touristen umworben, wurden nach Chamonix und ins Valle d‘Aosta, nach Megève und Genève, nach Yverdon und Lyon gelockt, immer mit dem Mont Blanc am nahen oder fernen Horizont. Mit dem höchsten Berg der Alpen warben gleichfalls Evian und Lyon, obwohl er von diesen Orten nie bzw. nur bei ganz guter Fernsicht zu sehen ist. Ein Plakat darf schliesslich die Geografie ein wenig zurechtrücken. Das neue Buch von Giroud ist aber mehr als nur eine Posterstory des Mont Blanc, es ist auch eine pointiert verfasste Geschichte des Tourismusplakates überhaupt.

Breit gefächert ist ebenfalls das folgende Buch, wie schon im Titel ersichtlich: „Une histoire de l’Aiguille du Midi et des téléphériques“. Pierre-Louis Roy befasst sich einerseits mit der Geschichte der technischen Erschliessung des Hausberges von Chamonix, von den ersten Plänen um 1905 über die Seilbahn in den Col du Midi aus den 1920er Jahren bis endlich zur Eröffnung des Téléphérique de l’Aiguille du Midi im Jahre 1955, damals die höchste Seilbahn der Welt (Bergstation auf 3777 m). Heute ist sie noch die zweithöchste Seilbahn Europas nach der 1979 in Betrieb genommenen Seilbahn auf das Kleine Matterhorn (Bergstation auf 3820 m). Andererseits wird in der Publikation, immer mit zahlreichen Illustrationen, überhaupt die Geschichte erzählt, wie der Mensch mit gespannten Drahtseilen, sei es am Boden oder dann vor allem in der Luft, unzugängliches Terrain in der Horizontalen und Vertikalen überwand. Von der Aiguille du Midi führt eine Kleinkabinenbahn über das Vallée Blanche und den Glacier du Géant hinweg zur Pointe Helbronner, von wo man nach Entrèves bei Courmayeur hinunter schwebt. Eine Traversierung des Mont-Blanc-Massivs ohne Anstrengungs-, aber vielleicht mit Angstschweiss. Letzteren kriegt man teilweise auch beim Betrachten von Fotos, wo Monteure auf Seilen, Stützen und Kabinen am Werk sind, nicht immer gut gesichert, scheint es.

Und noch ein dritter, ganz eiliger Tipp zum Mont Blanc, mit der Ausstellung „La montagne en perspective“ im Musée d’Art et d’Histoire in Genf. Diese kleine, aber sehr feine Exposition ist nur noch bis zum 12. Februar 2023 zu sehen: http://institutions.ville-geneve.ch/fr/mah/expositions-evenements/expositions/la-montagne-en-perspective/. Einzigartige, mit klugen Erklärungen versehene Exponate zu den Bergen, insbesondere zum Mont Blanc, angeordnet nach den Blicken von ferne, von unten, aus der Nähe, von allen Seiten. Und dann sollte man unbedingt noch durch die allgemeine Kunstausstellung auf dem gleichen Stock wandern, an den berühmten Berggemälden von Calame, Diday und Hodler vorbei zum 1444 gemalten Altarbild „Der wunderbare Fischzug“ von Konrad Wirz, mit den Bergen Les Voirons, Le Môle, Petit Salève im Mittelgrund und den Gletschergipfeln des Mont Blanc im Hintergrund – die erste topografisch genau bestimmbare Landschaftsdarstellung der europäischen Malerei.

Jean-Charles Giroud: Le Mont Blanc s’affiche!. Éditions Glénat, Grenoble 2022. € 36,00.

Pierre-Louis Roy: Une histoire de l’Aiguille du Midi et des téléphériques. Éditions Glénat, Grenoble 2022. € 25,00.

La Frana – Nagelfluh

Steine, Felsen, Berge: Was passiert, wenn sie in Bewegung kommen, durch uns? Zwei Kunstbildbände geben überzeugende Antworten.

«Bergstürze gehören zu steilen Bergen. Sie sind Teil des kontinuierlichen Abtrages unter dem Einfluss der Schwerkraft und des Klimas. Zunehmend verändert der Mensch das Klima, die Atmosphäre wird wärmer und heizt auch die Berge auf. Dadurch wird der Frost in kalten Bergen geschwächt.»

So leitet der Glaziologe und Geomorphologe Wilfried Haeberli seinen Beitrag „Die Wand: Klima, Frost und Sturz. Cengalo – ein Vorläufer?“ im Bildband „La Frana“ ein. Wir erinnern uns: Am 23. August 2017 löste sich mit einem ohrenbetäubenden Donnern ein grosses Stück Felswand in der 1100 Meter hohen Nordwand des Pizzo Cengalo (3369 m) in den Bergeller Alpen. Drei Millionen Kubikmeter Gestein und Schlamm flossen durch das Val Bondasca bis ins Dorf Bondo hinunter, spülten Häuser, Strassen und Infrastrukturen weg und hinterliessen eine Geröll- und Schuttwüste. Nun liegt ein Buch zu dieser Katastrophe vor, ein ganz aussergewöhnliches, mit dem schlichten Titel, übersetzt: „Der Bergsturz“.

Die Arbeit an „La Frana“ begann an jenem 23. August. Die in Bonn geborene und heute in Genf und im Bergell arbeitende Künstlerin Sabine Tholen erfuhr über ein kurzes Video, was an dem Tag passierte. Es löste in ihr einen Prozess aus, dessen Abschluss vor uns liegt. Sie setzte sich fotografisch und zeichnerisch mit diesem Ereignis auseinander. Seitengross sind die Farbfotos von den granitenen Zinnen und Wänden des Bergells und insbesondere des Cengalo, dann werden die Fotos immer kleiner, zerstückelter, bis sozusagen Bildlawinen auf uns zurollen, die sich in Geröll und Schutt niederschlagen, unbarmherzig trotz Sonnenlicht. Am Schluss des Buches aber Fotos der gemachten Aufbauarbeiten mit Dämmen und zart grünen Hängen, seitengross und hoffnungsfroh. Unterbrochen wird die Bilderflut von zwei Textblöcken mit Interviews und Hintergrundberichten zum Bergsturz am Cengalo, ja überhaupt zum verstärkten Abbröckeln, Abrutschen und Abstürzen der Berge, daran die Menschheit nicht ganz unschuldig ist. Kurz: ein sowohl inhaltlich wie formal überzeugendes Buch zu einem singulären Ereignis in den Bergen und darüber hinaus. Erschienen in einem Verlag, den ich bis jetzt übersehen habe.

„Sehr geehrter Herr Anker. Ich schicke Ihnen wie gewünscht das Buch von Sabine Tholen, „La Frana“. Das Thema darin ist hochaktuell. Das 2. Buch „Nagelfluh“ von Andi Rieser hat mit dem Aufbau und Abbau unserer Landschaft zu tun.“ Das schrieb mir Gianni Pravicini, Verleger der Edizioni Periferia zusammen mit seiner Frau Flurina. Seit 30 Jahren gibt es diesen Kunstbuchverlag in Luzern. Auf https://periferia.ch/de/ heisst es unterem anderem zum Bildband von Andi Rieser, der im Luzerner Napfgebiet runde Nagelfluh-Steine sammelt, sie mit der Steinfräse aufbricht, poliert und so eine farbige, unbekannte Innenwelt einer wenig beliebten geologischen Schicht offenbart: „Das Buch zeigt eine Auswahl dieser Schnittbilder und setzt sie ihrer jeweiligen äusseren Form gegenüber. Der Blick hinein ins Innere der Steine wird mit Makroaufnahmen ergänzt und Landschaftsbildern der Fundgegend gegen übergestellt. Dabei zeigen sich Bildverwandtschaften und werden Assoziationsräume geöffnet, welche den Blick ins Urzeitliche mit den formgebenden Kräften der Gegenwart verbinden.“ Die Begleittexte stammen von Andi Rieser, vom Erdwissenschaftsprofessor Helmut Weissert und von Jana Bruggmann, Kuratorin, Kunst- und Geschichtswissenschaftlerin. In ihrem Beitrag lese ich: „Die Steine aus der Nagelfluh erhalten ihre Wirkung durch das Spannungsfeld zwischen Sehen und Wissen, Dokument und Kunstwerk.“ Zeugnis und Kreation – wie bei „La Frana“.

Sabine Tholen (Fotos): La Frana. Texte (Dt, It, Fr) von Jean-Marc Besse, Marc Bundi, Patrick Gosatti, Wilfried Haeberli, Rainer Michael Mason und Marcello Negrini. Edizioni Periferia, Luzern 2022. Fr. 48.-

Andi Rieser (Fotos): Nagelfluh. Texte von Andi Rieser, Helmut Weissert und Jana Bruggmann. Edizioni Periferia, Luzern 2022. Fr. 40.-