Frostige Zeiten

Vereinbarte Klettertermine lassen sich ohne triftigen Grund nicht absagen. Das musste ich erfahren, als ich Minusgrade für ein Verschieben angeben wollte. Klettertermine seien Ehrensache, hiess es. Kälte hin oder her. © Annette Frommherz fallenflue-01-2012-19

Sein Flehen lässt mich erweichen. Er sei schon über einen Monat nicht mehr in seiner Fallenflue gewesen, sagt er am Telefon. Er, der in der Zwischenzeit eine Expedition auf den höchsten Berg Amerikas, dem Aconcagua, geleitet hat, will sich nicht abschütteln lassen. Ich stelle mir gerne vor, wie er den Hörer zwischen Achsel und Kopf klemmt, auf den Boden kniet und die Hände zum Bitten zusammenlegt. Ich tue, was ich in solchen Situationen sonst nie tue: Ich gebe nach.

Nach der bislang kältesten Nacht in diesem Winter zeigt das Thermometer minus fünf Grad. Zwei Schichten Thermounterwäsche und mehrere Schichten Flies, Faserpelz und Windstopper sollen mich vor dem Erfrieren bewahren. Auf dem Weg Richtung Schwyz warnen die Moderatoren im Radio vor der Kälte; man solle die dicke Jacke nicht vergessen. Danke, zu spät, meine hängt zu Hause im warmen Schrank. Mein Kletterpartner lässt sich nicht abwimmeln, als ich ihn anrufe. Er habe vorgesorgt und zwei dicke Daunenjacken dabei. Und drei dünnere. Als Madame Etoile von einer unstabilen, emotional schwierigen Woche redet, die an unserem Selbstbewusstsein nagen wird, bin ich aufs Äusserste gefasst.

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Mit Schneeschuhen gelangen wir an den Rand der Felsen; tief unter uns ruht im Schatten das Muotathal. Wir seilen uns gleichzeitig fünfunddreissig Meter an der Südwand auf das obere Band im Sektor Gülden ab. Die Bise lässt uns die Reissverschlüsse ganz nach oben ziehen. Geschmeidig und lautlos zieht der Falke seine Runden. Wir kennen uns. Schon bald wird er weiter hinten sein Nest bauen, wie jedes Jahr. Die Kletterer werden seine Brutzeit nicht stören; weder wir noch andere. Das ist genauso Ehrensache wie Klettertermine einhalten. Eine Maus huscht schnell in ein Loch im Felsen. Weiss der Teufel, was die hier oben verloren hat.

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Wir setzen uns auf das schmale Felsband und ehren diesen Kraftort mit einem Becher Tee. Die Route, die ich klettern wollte, muss ich sein lassen. Oben im Überhang tropfen dicke Eiszapfen, die sich lösen könnten. Viele Varianten für meinen Kletterlevel gibt es in diesem Sektor nicht. Eine 6a+ ist die einzige Alternative, und an dieser werde ich mir die Zähne ausbeissen; auch im Nachstieg. Schon der Einstieg in die Route lässt mich fast verzweifeln. Die Finger der rechten Hand zwängen sich in einen engen Riss, während die linke einen etwas gelungeneren Griff erhält. Für das rechte Bein gibt es einen schwungvollen Auftakt mit einem weiten Tritt, und das linke darf sich ziemlich schnell ein griffiges Absätzchen suchen. Die Sinterstellen im Kalkgestein mehren sich, je weiter ich klettere. Wie feine Nadeln stechen die verhärteten Tropfstellen in meine Fingerbeeren. Mein Kletterpartner genehmigt sich nach meiner kräfteraubenden Kletterpartie ein paar schwerere Routen.

Die Kraft der Sonne lässt bald nach. Unsere Finger sind klamm. Wir blasen zum Rückzug, traversieren über das untere Felsband, indem wir uns am fest montierten Seil mit Karabinern sichern. Ich meide jeden Blick nach unten und konzentriere mich darauf, Fehltritte zu verhindern. Die könnten der Gesundheit schaden.
Mein Selbstbewusstsein ist an diesem Tag – entgegen der Voraussagen – nicht abhanden gekommen, emotional fühle ich mich stabil, der Montag ist gerettet und weder Finger noch Zehen sind erfroren. Madame Etoile hat wohl etwas übertrieben.

Starkes Team

Die Weissenberge gehören den Glarnern. Und ein bisschen auch mir. Denn sie erzählen Geschichten, wie sie mir dort begegnen. © Annette Frommherz weissenberge-01-2012-2

Fünfundachtzig sei er schon, sagt er, und seine Frau auch. Sie seien halt nicht mehr so schnell, meint er, als müsste er sich entschuldigen, als ich ihn bergauf überhole. Sie müssen ja nicht pressieren, sage ich, das haben Sie bestimmt genug in Ihrem Leben. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie nun mehr zur Verfügung haben als unsereins.
Seine Frau ist hinter ihm geblieben. Er wartet auf sie. Mit gekrümmtem Rücken und einer geduldigen Achtsamkeit setzt sie einen Fuss vor den anderen. Die roten Schneeschuhe sehen an ihr fremd aus. Nun hat sie aufgeholt.

Die Weissenberge heissen auch im Sommer so, wenn sie grün sind. Winterthur besteht ja auch den Sommer durch. Genau wie Finstersee an keinem solchen See liegt, schon gar nicht an einem finsteren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Dorf Matt im engen Sernftal liegt schon bald im Schatten. Mit Sonne sind sie winters nicht verwöhnt, die Mattmer oder Mattener oder wie sie sich nennen mögen. Weiter oben finden die Sonnenanbeter nicht nur mildere Temperaturen, sondern auch Routen, auf denen sich die Masse breit verteilen kann. Die einen zieht es Richtung Leidplangge, die anderen zum Zindelchopf oder Fuggstock.

Schön, sage ich zu meiner Verbündeten, der Sonne. Sie scheint unbeteiligt. Alleine unterwegs zu sein hat auch seine Vorteile. Schnell kommt man mit anderen Artgenossen ins Gespräch. Noch versuche ich herauszufinden, ob es Mitleid ist, das dazu bewegt, mich anzusprechen – ich könnte als sozial verkümmert angesehen werden -, oder weil es einfacher ist, als Zweisamkeit zu stören.

Oben, unweit des Stäfeli, setze ich mich und schreibe und lese. Der Mann und die Frau mit den roten Schneeschuhen kommen bald dazu. Sie setzen sich und trinken Tee. Schön, gäll, sagt der Mann, und tätschelt seiner Frau das Knie. Er ist schwerhörig, sagt sie zu mir, Sie müssen laut zu ihm reden. Früher, sagt er, ohne mich anzuschauen, früher sind wir oft in die Berge. Ich sage laut zu ihm: Da haben Sie sicher viel zu erzählen. Aber er hat es nicht gehört. Er schaut in die andere Richtung, hinüber zum Garten des Vreneli, und ich wünschte mir, die Beiden seien dort oben auch schon gewesen.
Er hilft ihr mit den Schneeschuhen, bietet ihr nochmals Tee an, sie bricht ihm ein Stück Schokolade ab. In ihren Worten, in ihren Bewegungen liegt Vertrautheit. Ich kann mich kaum satt sehen an den Beiden, die wohl mehr als ihr halbes Leben Seite an Seite verbracht haben und noch immer so sorgsam miteinander umgehen.

Weit hinten ist Mehl am Horizont gestreut, die Dimensionen verblassen zum Einerlei. Mir ist kalt geworden. Später überhole ich nach meiner Rundtour die Beiden wieder. Ihre Schritte sind langsam. Wir begrüssen uns wie alte Bekannte. Mögen sie, denke ich, noch lange zusammen unterwegs sein.

Den Alltag verloren

So unbeschwert wie heute geben sich die Tage selten. Amden bettet sich behaglich auf die Sonnenterrasse. Durchaus: der Blick nach oben zu Mattstock und Gulmen lässt mich anerkennend nicken. Die Natur posiert ganz selbstbewusst. © Annette Frommherz

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Behutsam lasse ich den Alltag fallen. Heute bin ich alleine unterwegs; mit mir und meinen Gedanken. Es ist ein selten gewordenes Stelldichein, und ich geniesse es. Mir fehlt es an nichts, ausser dass ich einem Mitläufer gerne gesagt hätte, wie blumig der Rosentee mit Honig schmeckt und wie vollkommen er in diese paradiesische Umgebung passt.

Es knirscht unter meinen Schneeschuhen. Kaum habe ich die Piste mit den Skifahrern und Snowboardern hinter mir gelassen, liegt der Schnee unberührt und die Weite vor mir. Millionen von Diamanten sind hier grosszügig gestreut worden und funkeln in der Mittagssonne. Tannen beugen sich mit schwerer Last. Tierspuren kreuzen sich. Ich bleibe stehen und lausche. Es ist die Sehnsucht nach Stille. Die Lautlosigkeit, in der selbst der Tinnitus, der üble Bursche, sich still ergibt und mich für einmal höflich in Ruhe lässt.

Ich will die Zeit geniessen, die uns noch bleibt bis zum prophezeiten Weltuntergang. Was uns Mahner und Weissager auch verkünden: Es ist gut, daran erinnert zu werden, dass wir nicht unendlich auf diesem Planeten weilen dürfen. Wonach wir streben, wer und was uns wichtig ist, was wir nicht wiederholen mögen: darüber nachzudenken lohnt sich. Hier ist der ideale Platz, um meine Gedanken fliessen zu lassen, kreuz und quer durch die Gezeiten meines Lebens. Schnee rieselt von einem Ast in meinen Nacken und kühlt. Ein Seufzer, der unbemerkt nach draussen flüchtet, lässt mich aufhorchen. Es ist, als wärs die letzte Sorge, die aus meinem Innersten entweicht. Eine verirrte Wolke hängt zwischen den Tannenwipfeln und sucht vergeblich nach seinesgleichen. So blau der Rest des Himmels ist, so rein ist nun mein Atem. Der Alltag liegt tief begraben unter dem Schnee, vielleicht sogar im Innern der Erdkugel. Ich mag ihn nicht ausgraben. Ich mag nach überhaupt nichts graben. Ausser nach mir selbst. Die Sonne wärmt weich mein Gesicht.

Mein Wille geschehe

Wenn nicht im Himmel, so doch in den Bergen. Oder in den Bärgen, wie mir gerne ein Freund schreibt, der Berge mit Gipfeln bevorzugt, die mit einer Bahn zu erreichen sind und die oben ein möglichst annehmliches Gasthaus vorweisen können. © Annette Frommherz wildspitz-12-2011-15

Weshalb er Bärge schreibt, weiss ich nicht. Ich sollte ihn danach fragen. Ist es sein Stil? Will er sich von der grauen Masse abheben? Verwendet er dieses Wort nur, wenn er mit mir korrespondiert? Oder ist es sein Hang, das hohe Deutsch gerne in die mundige Art abgleiten zu lassen? Ich zweifle. Kenne ich ihn nicht gut genug, dass ich ihn danach fragen muss? Ich sinniere. Bärg liest sich wild und rau wie ein Bär. Ausgesprochen tönt es nach Geplärr. Bärg. So herablassend. So, als würde Lakritze zwischen den Zähnen kleben bleiben.
Den Freund kenne ich seit siebzehn Jahren. Erst in der letzten Zeit haben wir angefangen, über Berge zu reden. Er schickt mir alles, was ihm an Artikeln in die Finger gerät, und das ist hie und da etwas, denn er ist Journalist. Wenn ich darüber nachdenke, was es bedeuten könnte, fällt mir auf, dass sein Ton ab und an ironisch tönt. Denn der Freund ist einer, der gerne von ‚Sport ist Mord’ redet und sein süsses Bäuchlein so trägt, wie Männer mit Bauch es tun: mit dem Hemd über der Hose. Kann er meiner Leidenschaft, auf Berge zu steigen, nichts abgewinnen? Ich denke weiter. Nein, Ironie kann es nicht sein. Oft lesen sich seine Zeilen nämlich, als sei er stolz, eine gute Freundin zu haben, die sich in den Bergen herumtreibt. Er kennt mich gut, der Freund. Er weiss immer, was ich mir wünsche. Keine Gelegenheit lässt er aus, mich zu beschenken. In der Zwischenzeit erhalte ich von ihm Bücher über Berge, Berge von Büchern. Er trifft es gut, ausser ich besitze das Buch bereits.
Berge. Ich würde dieses Wort nie verfälschen. Zu sehr liegt mir die Sprache am Herzen. In Ausnahmesituationen gestatte ich mir höchstens einen Abstecher mit Wortspielereien aus der Mundart. Ich werde den Freund nach seinen Beweggründen fragen. Ich will es wissen; ein Motiv muss er haben. Und Freunde darf man alles fragen, sonst wären sie keine.

Übrigens: meine Aussage war nicht richtig. Mein Wille geschieht weder im Himmel noch in den Bärgen.

Verbotene Substanz?

Versprochen ist versprochen; wir haben die Schneeschuhe gegen die Skier getauscht. Fantastische Schneeverhältnisse belohnen unseren Entscheid. Zur Freude des einen, für die andere nicht minder. © Annette Frommherz

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Es gibt Artgenossen, die wünschen sich auf Weihnachten einen neuen Schirmständer oder ein gelbes Schlauchboot. Nicht schwer und unerschwinglich, solche Wünsche zu erfüllen. Wer sich aber Traumverhältnisse für eine Skitour wünscht, der muss sich mit der Tatsache abgeben, dass sich diese weder im Grossverteiler noch im Brockenhaus ergattern lassen. Wer solche Verhältnisse ohne Stossgebete oder anderes Flehen antrifft, der ist ganz einfach ein Glückspilz.

Wir sind uns dessen bewusst, als wir die Felle straff auf die Skier ziehen. Es ist Mittwoch, kurz vor Jahresende; in der stillen Bescheidenheit der winterlichen Natur. Das Hasenflüeli (2’412 müM) ob St. Antönien ist heute unser Berg. Märchenhaft zaubert die Sonne Schatten- und Lichtgebilde auf die Hänge. Wir sinken zeitweise tief im weissen Pulver ein. Die eine oder andere Spitzkehre am Steilhang meistere ich besser als noch in der letzten Saison; über die restlichen schweige ich. Achthundert Höhenmeter weiter oben ziehen wir die Skier ab, um durch das Couloir auf den kleinen Grat zu gelangen, der uns zu einer grandiosen Aussicht verhilft. Ist es nicht herrlich? flüstert mir eine Berggängerin vertraulich zu, als wäre das Prachtwetter eine verbotene Substanz, die unter der Theke gehandelt werden müsste. Auf jeden Fall ist es mehr Feststellung als Frage. Ich nicke ihr zu.

Noch nie bisher bin ich in solch tiefem und luftigem Schnee so steil hinunter gefahren, wie wir bald darauf den Nordhang einnehmen. Erst zwei Spuren zieren die Abfahrt; es ist also beinahe jungfräulicher Schnee, den wir antreffen. Meine Bogen sind weit, die Fahrkünste bescheiden, währenddessen mein Begleiter mit leichten Schwüngen ins Tal flitzt.

Je länger der Tag wird, desto demütiger verneigen wir uns vor diesem prächtigen Exemplar. Zwar kennen wir das Sprichwort ‚Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben’. Für einmal jedoch lassen wir den Ratschlag unbeachtet.

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Weitsicht statt Rückblick

Der gedankliche Jahresrückblick muss warten. Wir sind damit beschäftigt, den Schnee zu testen. Abermals mit den Schneeschuhen. Zum Jammer des einen, zur Freude der anderen. © Annette Frommherz spilauer-12-2011-1

Manchmal ist Schweigen angesagt, weil die Stille nach Ruhe verlangt. Wie hier oben über dem Spilauersee, wo wir rasten. Der Schnee hat sich wie ein dicker Teppich auf Matten, Hänge und See gelegt und tut sich dieser Tage wichtig. Mit der Schaufel hat mein ständiger Begleiter ein hübsches Schneebänklein mit Rückenlehne gebastelt, so dass wir uns bequem Richtung Sonne setzen können. Wir kauen das fünf Tage alte Brot, das wir mit der Taschensäge in Scheiben zerlegt haben, und schieben rezenten Käse nach. Der heisse Most trinkt sich in dieser Winterkulisse wie Honigwein.

Wir sitzen also auf diesem herrlichen Hügel wie Könige auf dem Thron, nachdem wir vom urnerischen Riemenstaldner Tal her mit der Freiluftbahn in die Höhe bugsiert worden sind. Links von uns hätte uns zwar die Lidernenhütte willkommen geheissen, aber wir wollten uns die Füsse vertrampen und nach dem Hund- und Rossstock schauen, die unsere winterliche Wanderung von oben herab begutachten.
Gedanken flattern in meinem Kopf. Es ist unabdingbar, sie auf Papier bringen zu können, aber meine Schreibutensilien langweilen sich im Augenblick im Handschuhfach meines Autos. Mein Partner übergibt mir betont nebenbei seinen Schreibblock und den Kugelschreiber. Beides trägt er stets mit sich, bergauf und bergab. Er benötigt das Schreibzeug allerdings nicht für literarische Kritzeleien, sondern für Pragmatischeres. So steht da zum Beispiel geschrieben: ‚Exakt N 500 m bis 2’590 m’ oder ‚55° 1 km bis 2’340 m (15 Min.)’. Tönt interessant. Mir fehlt allerdings etwas Prosaisches, Lyrisches.

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Weit hinter uns donnern Lawinen zu Tal, die sich von den Südhängen gelöst haben. Vor uns mehren sich die Jauchzer der Skitourenfahrer, die die Hänge mit Schlangenlinien verzieren. Mein Liebster blickt neidisch hinüber.
Ist es schlimm, frage ich. Es ist etwa so, sagt er, wie wenn du bei 30° im Schatten in der Badi hockst und du hast die Badehose vergessen. Der Arme. Gestern noch waren wir mit den Schneeschuhen auf dem Wildspitz. Auch das hat er still geduldet. Morgen, verspreche ich ihm, morgen packen wir endlich die Skier.

Herzlich willkommen, holder Winter!

Frau Holle schüttelt kräftig die Daunen, potztausend! Die Dame macht endlich vorwärts. Jetzt, wo die Schneeflocken um die Wette tanzen, wird alles gut. Hej, ist das ein Treiben vor dem Fenster! © Annette Frommherz alpthal-12-2011-1

Endlich Schnee! Es ist, zugegeben, noch nicht lange her, seit ich den Winter etwas ungeduldig herbeisehne. Kälte liegt mir nicht besonders; zu schnell sind die Finger klamm, und der Kuhnagel lacht hämisch über meine sonst wohltemperierten Bürohände. Seit ich aber mit einem Winterfreund liiert bin, ist alles ganz anders. Seine ungeduldigen Blicke in den Wetterbericht entgehen mir ebenso wenig wie die Skier, die für einen möglichst baldigen Einsatz bereit stehen.

Die Skier haben wir zwar nicht dabei, als wir Richtung Alpthal ziehen, dafür die Schneeschuhe, die ebenso erwartungsvoll sich an die Hauswand lehnten. Von Brunni aus stapfen wir den Hang hinauf. Als würden wir den Weg nach oben nicht finden, sind an jedem dritten Baum Markierungen angebracht, die besagen, dass wir uns auf dem offiziellen Schneeschuhweg befinden. Nun gibt es also neben Bike-, Pisten-, Wander- und Bergrouten-Markierungen auch diese. Bald müssen wir uns wohl mit einem Markierungs- und Hinweis-Wald abfinden und verpassen dabei, den wirklichen Wald zu sichten.

Der Schnee knirscht unter unseren Füssen. So muss es sein. Sogar die Sonne lässt sich nicht zweimal bitten und lässt die weissen, schweren Kissen auf den Tannästen glitzern. Mein Liebster wehrt sich tapfer und still gegen die innere Unruhe, die Skier zu Hause gelassen zu haben. Seine wehmütigen Blicke auf die Tourenskifahrer, die neben uns die ersten Kurven ziehen, übersehe ich gekonnt. Oben in der Furggelenhütte dampft schon bald vor uns die heisse Erbsensuppe. Es ist wie Ferien. Weit weg.

Vor meinem Fenster aus sehe ich nun die Bäume, die sich unter der schweren Last beugen. Ich muss nach draussen. In den Schnee. Die Zunge in die Luft strecken und die Schneeflocken darauf schmelzen lassen. Der Winter ruft!

Über allen Gipfeln

Wandern ist Balsam für die Seele, und frische Luft ist Nahrung für die Gedanken. Wer sich auf den Weg macht, dem eröffnen sich neue Erkenntnisse. © Annette Frommherz plattlispitz-12-2011-14

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Es war eines Abends im Jahre 1780, als Goethe diese Worte mit Bleistift an die Wand einer Jagdhütte schrieb. Heute, 231 Jahre später, würde er das nicht mehr tun. Er wüsste, dass seine Schreibereien leicht als öffentliches Ärgernis bezeichnet werden könnten und er dafür und für Sachbeschädigung bestraft würde. Es könnte zwar sein, dass er ungestraft davonkäme, weil sein schwarzer Kapuzenpulli sich der Farbe der Nacht anpasst. Aber inzwischen sind auch an abgelegenen Stellen Überwachungskameras installiert, und Goethe hätte mit Bestimmtheit DNA-Spuren hinterlassen, so dass die Chance heute gross wäre, ihn überführen zu können.
Goethe hatte es seinerzeit gut: er brauchte sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Immerhin benutzte er damals keine Spraydose, sondern einen Bleistift. Es war übrigens nicht jugendlicher Übermut, den ihn zur Tat drängte; zu dieser Zeit war Goethe bereits 31 Jahre alt. Ich bin mir sicher, er ahnte nicht, welchen Wert seine Kritzelei auf der Hüttenwand für die Nachwelt haben könnte.

Solches und anderes dachte ich, als wir Richtung Plättlispitz unterwegs waren. Ich sinnierte über das Leben an sich und über meines im Speziellen. Und später eben über das von Johann Wolfgang von Goethe, diesem Dichtergenie, diesem unglaublich vielfältigen Künstler, dessen Gesamtwerk unvergleichbar bleibt.

Auf dem Gipfel war Ruh’. Wir schienen die einzigen zu sein, die den vorweihnächtlichen Sonntagsverkauf verschmähten. Wir drehten uns um die eigene Achse und schauten erst zum Säntis, dann vom Mattstock zu den Churfirsten, und kontrollierten auch, ob der Mürtschenstock noch immer dort steht, wo er hingehört. Die Vöglein in den Wipfeln schwiegen. Es war, als würde der Sonntag ungeschoren davonkommen. Wir spürten kaum einen Hauch von Sehnsucht, wieder in den Nebel zu tauchen. Ich wartete, wollte aber nicht lange ruhen. Verstohlen suchte ich unten auf der Alp die Hüttenwand nach Zeilen ab, die mit Bleistift geschrieben worden waren. Ich fand keine.

Ein eigen’ Kerl

Den Samichlaus gibts, ich schwörs. Er hat mir früher mit der Fitze auf die Finger gehauen, weil ich Nägel kaute. Heute kaue ich keine Nägel mehr, würde aber gerne wieder, damit ich dem Samichlaus zeigen könnte, dass die Fitze nichts gebracht hat. Mein eigener Samichlaus ist ganz anders. © Annette Frommherz

Er wachte auf, weil ein lautes Schnaufen nah an sein Ohr drang. Und wie er die Augen aufschlug, sah er sein Eselchen, das ungeduldig mit den Hufen scharrte. Sein Atem blies ihm Wölkchen vor die Augen. Es ist gut, Elsi, sagte er, und es war gut.
Gestern Abend hätte er zu den Kindern gehen sollen. Daran erinnerte sich der Chlaus gleich beim Aufstehen, und die kalten Glieder streckte er gegen die niedere Decke der Hütte. Kurz vor dem Strässchen, das zum Gemeindesaal geführt hätte, wo sie erwartet wurden, hatte er Halt gemacht und zu Elsi gesagt, dass sie eigentlich auch mal so einen Sack mit lauter feinen Sachen verdient hätten. Elsi hatte die Ohren gespitzt. Es hatte nichts dagegen und trottete artig neben ihm her. Sie wählten das Strässchen, von wo aus sie niemand sehen konnte, und nach der Holzbeige verschluckte sie die Dunkelheit der Nacht.
Lange liefen sie nebeneinander, der Schnee reichte dem Chlaus bald knie- und dem Eselchen knöcheltief. Das machte ihnen nichts aus, denn sie sahen die Sterne am Himmel und den Berg vor sich, der sich wie ein mächtiger Schatten zum Schutze anbot. Da wollen wir hin, Elsi, und der Chlaus zeigte auf den drittobersten Rücken des Berges. Dort, man sah es von hier nicht, stand die Hütte, den ganzen Winter durch allein.
Den Herd im kalten Raum brauchten sie nicht. Der Chlaus leerte den ganzen Sack voller Köstlichkeiten auf dem Boden aus, Elsi knackte die Nüsse mit den Hufen, und sie taten sich gütlich. Der Chlaus sagte ab und zu hohoo, mit vollem Munde zwar, aber das störte das Elsi nicht. Es hatte die Mandarinen entdeckt, von denen es nie geahnt hätte, dass sie so gut schmeckten. Der Chlaus hatte ihm zwei davon geschält und Schnitzchen für Schnitzchen ins Maul geschoben. Die Lebkuchen teilten sie schön auf, wie es sich gehört, und die Zimtsterne überliess das Elsi dem Chlaus, weil es den Kopf arg hatte schütteln müssen, nachdem es einen probiert hatte.
Jetzt war ihnen etwas kalt an diesem Morgen, mit den noch immer vollen Bäuchen. Zum Glück hatte der Chlaus einen dichten Bart und das Eselchen ein dickes Fell, so dass sie sich das Heizen sparen konnten. Sie wollten nicht auffallen unten im Dorf, wo man sie im Gemeindesaal sicher vermisst hatte, und sie sich jetzt mit Rauchschwaden vielleicht verraten hätten. Chlaus und Eselchen schauten durch das vereiste Fensterchen hinüber an die weissen Bergketten, und just als sie fein säuberlich Erdnüsschen, Lebkuchen und Chräbeli zum Frühstück auftischen wollten, liess die aufgehende Sonne den Schnee auf dem Fenstersims glitzern.
Ein schlechtes Gewissen hatte der Chlaus nicht. Auch das Eselchen tat nicht so, als hätte es ein Gewissen, das schlecht zu sein hätte. Eigentlich konnten alle zufrieden sein. Das Dorf unten hatte eine neue Sage; die vom verschwundenen Chlaus samt Eselchen. Und der Chlaus samt Eselchen hatte ein neues Leben, frei von Pflichten und Versli und artigen Kindern, die keine Fitze brauchen.
Wer sommers auf eine Hütte kommt und sie scheint unbewartet, der sollte genauer hinschauen. Vielleicht kommt ihm ein alter Mann mit einem langen, filzigen Bart entgegen, sagt hohoo, und hinter ihm trottet zufrieden ein Eselchen.

Lahme Flügel

Wo Berge sich erheben, ist auch Platz zum Nachdenken. Nicht weil die Luft da oben dünner ist, sondern weil wir wissen, dass es ohne Täler keine Berge gäbe. Und hier, genau hier beginnt das Denken. © Annette Frommherz fallenflue-20111024-64

es kostet sie
kein Leben
aber
die Einsicht
dass die Aussicht
durch den Nebel getrübt wird

Es erspart ihr
keine Fragen
aber
paart sich
mit dem Zweifel
falsch abgezweigt zu sein

es tut sich
nichts Neues
aber
fliegt mit den Dohlen
bis die Flügel lahmen

es folgt ihr
kaum Schatten
aber lässt sie schaudern
als wärs ihr eigener

es bringt sie
nicht weiter
aber
bricht das Schweigen
das schwer
in der Luft liegt

es gibt
kein Versprechen
aber
einen Pfad
der noch nicht
festgetrampelt ist