Liebesspiel und Frauenmantel

Den Gedanken und Pfaden nachgehen und dabei neue Wege erschliessen. Die eigenen. Und so ganz nebenbei die Pflanzenwelt bestaunen. © Annette Frommherz

In der Nacht hatte es geregnet. In Strömen. Das hinderte mich in keiner Weise, daran zu glauben, was die Wetterfrösche mir versprochen hatten: Schönes Wetter. Der Glaube versetzt Berge. Und jene sind noch immer da, wie ich am Morgen von Oberiberg aus bestätigt erhalte. Dort, wo der Roggenstock schon letzte Woche stand, steht er noch immer. Gut so, denn auf diesen will ich.

Manchmal sehne ich mich nach mir. Dann suche ich mich so lange, bis ich mich gefunden habe. Das geht am besten beim Wandern. Alleine. Ich halte den Atem an, damit es noch stiller wird in mir. Und wie ich sicher sein kann, dass die Ruhe sich ausbreitet, bin ich startklar für die Taten.

Tropfende Gräser streichen um meine Beine wie anhängliche Katzen. Manch prächtige Weinbergschnecke kreuzt meinen Weg in mörderischem Schneckentempo. Ob sie so ihr nasses Haus in Windeseile trocknen will? In der Fuederegg störe ich ein Salamanderpärchen beim Liebesspiel. Und obwohl ich mich höflich entschuldige, ist ihnen die Lust abhanden gekommen.

Es kreucht und fleucht nicht nur auf dem Gipfel: Ein Fälterchen da, ein Sommervögelchen dort, und Bienen und Fliegen, ein Käferchen auch. Alles auf den Beinen und in den Flügeln. Ein wahrer Tumult! Kein Wunder, denn die Alpenblumen blühen um die Wette: Akelei und Frauenmäntelchen, Hornklee und Enzian, Glockenblume und Knöterich. Alles vorhanden, alles so üppig, jedes in pompösen Farben. Das Wollgras wippt dazu in bester Sommerlaune.

Und wer gibt mir den Gipfelkuss? Ich schaue mich um, aber es ist keiner da. So küss ich mir meine Schulter. Mehr geht nicht. Es muss reichen in der Not.

Entschleunigung

Wenn alles ein bisschen gemütlicher und lieblicher vonstatten geht, dann befindet man sich mit ziemlicher Sicherheit im Berner Oberland. Viel zu lange waren wir nicht mehr in dieser Gegend. Wie kann man nur. © Annette Frommherz

Vortags war ich noch damit beschäftigt, meiner Nichte beim Heiraten beizustehen. Das war in Thun. Dort gabelte ich anderntags meinen Liebsten auf, und zusammen machten wir uns auf den Weg Richtung Kandersteg. Zeitlich waren wir etwas knapp dran; die Talstation der Gondelbahn war, als wir am Schalter eintrafen, bereits auf Feierabend eingestimmt. Kein Problem: Nur für uns fuhr eine letzte Gondel hinauf. Kein unflätiges Wort, kein böser Blick, kein niederträchtiges Raunen wie in Unterländer Gebieten oft gang und gäbe, sondern verständnisvolle Worte in urtümlichem Berner Dialekt. Uns wurde es warm ums Herz.

Am Oeschinensee war der Schönwettertumult des Tages verschwunden und Ruhe am Wasser eingekehrt. Nur zwei junge Abenteurer waren in Sicht- und Winkweite anzutreffen. In der Hetze hatten wir zwar Teller und Besteck im Auto gelassen und auch sonst so einiges vergessen. Aber Risotto direkt aus der Pfanne und von der Kelle zu essen gibt einem ein zusätzliches Gefühl von Freiheit. Überhaupt galt hier oben Entschleunigung als Zauberwort. Am See zu sitzen und hinauf auf das Blüemlisalphorn und die Wilde Frau, das Oeschinen- und das Doldenhorn zu schauen: Das war schon prächtig. Später ins knisternde Feuer schauen und müde werden und sich von Mutter Natur beherbergen lassen.
Aber eigentlich wollte ich ja vom Klettersteig erzählen.

Es mutet dann doch etwas seltsam an: Die Metallstangen, die aus den Felsen ragen. Metall also, auf dem wir am nächsten Morgen stehen und uns ab und an mit den Händen am Drahtseil halten. Das Gestein, das ich normalerweise so gerne berühre, bleibt so fast unberührt. Es ist mir, als verrate ich den Felsen.

Der Klettersteig in Kandersteg ist mit dem Schwierigkeitsgrad K4, mit den zwei Dreiseilen-Brücken über den tosenden Wasserfällen und der Tyrolienne eine beliebte Attraktion. Aber trotz grossem Andrang geht es zügig vorwärts. Schwindelfrei müsse man sein, heisst es in den Beschreibungen des Klettersteigs. Ich tue so, als wäre ich es. Und indem ich mich selber überliste – nämlich anfangs den Blick an den Felsen haften – kommt dieses Gefühl der bleiernen Erdanziehung erst gar nicht auf.
Doch, es gefällt uns. Aber wir wollen es nicht vergleichen mit den Mehrseillängen-Routen irgendwo in den Berghängen zum Gipfel. Weil es nichts zu vergleichen gibt.

Oben auf der Allmenalp, nach drei Stunden im Klettersteig, verwöhnt das Berggasthaus mit Köstlichkeiten und der inzwischen vertrauten Gelassenheit und Freundlichkeit. Der Florian, der auf der Handorgel auswendig spielt, etwas Langeweile im Gesicht, aber Tempo in den Melodien, dem schaue ich gerne zu bei Rhabarberkuchen und einer unverschämt grossen Portion Nidle.
Etwas von der Ruhe haben wir mit nach Hause genommen. Als Andenken. Und als Seelennahrung, bis wir wieder kommen.

Kalkwand, du schöne!

Vorklettern ist nicht meine Spezialität. Aber das kann es ja noch werden. © Annette Frommherz

Etwas zittrig sind die Finger schon, als ich den Stand einrichte. Es ist die erste Mehrseillängen-Route dieses Jahr, und wenn ich erstmals wieder am Felsen stehe und hoch oben den Gipfel der Begierde sehe, dann ist mir, als müsste ich mit der Seiltechnik wieder ganz von vorne beginnen. Die Theorie hilft da wenig; man muss einfach immer wieder üben, üben, üben. Aber wem sage ich das.

Die Matten im Schwändital haben sich an diesem Sonntagmorgen sanft und weich hingelegt und zieren sich mit diesem frischen Grün, wie ich es liebe. Weiter oben wagt sich der Frühling noch etwas gehemmt auf den Laufsteg, aber das kommt schon noch. Die letzten Schneefelder haben sich noch nicht zurückgezogen und treten etwas launisch-matschig auf. Und endlich stehen wir vor dieser Wand – Kalkplatten, Risse, ein paar knorrige Föhren. Stolz zeigt der Brüggler, dass ihm der Winter nichts anhaben konnte.

Wir wählen die Route ‚Dornröschen’ und hoffen, sie aus dem hundertjährigen Winterschlaf wecken zu können. Wir wählen sie aber auch zu Ehren von Ursi Zweifel und Felix Ortlieb, die die Route vor 14 Jahren gebaut haben (danke, ihr zwei, und auf bald wieder im Kletter-Yoga!).
Mein Liebster steigt in die erste Seillänge ein. Mit Doppelseil zu klettern ist wieder ein Umgewöhnen, aber flexibel zu bleiben ist im fortgeschrittenen Alter das A und O. Die zweite Seillänge überlässt mir mein Begleiter mit den Worten ‚du bist dran’, was keine Widerrede zulässt. Er muss endlich durchgreifen, da muss ich ihm Recht geben; sonst klettert er in zehn Jahren noch vor. Ich halte Ausschau nach dem nächsten Haken. Im Vorstieg sind sie immer weiter weg als im Nachstieg, ich schwörs.

Oben nach der letzten Seillänge pufft mich der Wind in die Seite. Ich stehe frierend da in meinem ärmellosen Leibchen und muss warten, bis mir der Pullover gereicht wird, der im Rucksack des Nachsteigers ein Nickerchen gehalten hat.

Mir ist nicht ums Absteigen, als ich einen Blick hinter die Felszacken werfe. Steil fällt es hier ab und ist für mich als Spaziergang gänzlich ungeeignet. Und wer weiss, wohin uns der Wind, das himmlische Kind, abservieren würde. Abseilen!, sage ich deshalb bestimmt, noch bevor ein anderslautender Vorschlag kommen kann.

Dornröschen liess sich nicht blicken, aber geweckt haben wir es bestimmt.

Ungeschriebene Gesetze

Die Schwerkraft ist eine Kraft, die schwer auf einem lasten kann. Das musste ich feststellen, als ich in der Wand hing mit allem Drum und Dran. © Annette Frommherz

Ich habe die Gesetze nicht gemacht. Die sind von anderen ins Leben gerufen oder erforscht worden, ich schwörs. Das Gesetz der Schwerkraft zum Beispiel. Wie ich da so hänge in meinem Klettergurt, im Überhang, geht mir dieses ungeschriebene Gesetz durch den Kopf, und auch, wie ich aus dieser misslichen Lage wohl wieder herauskomme. Er, der weiter oben noch schnell einen Stand bohren wollte, sagte, ich solle mich einfach mal abseilen, er komme später nach. Bis wohin denn, fragte ich noch. Einfach dem Seil entlang, sagte er, bis zum kleinen Absatz, in der Nähe des Tännchens, du weisst schon. Und, sagte er noch, als ich mein Abseilgerät schon im Seil eingehängt hatte und daran war, den am Karabiner befestigten schweren Rucksack zwischen die Beine zu klemmen: Übrigens hat es auf halber Strecke noch einen Express, aus dem du das Seil nimmst, und den Express hängst du aus.

Daran konnte ich mich gut erinnern, während ich mich abseilte, dem Seil entlang; wo denn sonst. Das Seil drängt sich ja nach der Schwerkraft, und ich nicht minder. So näherten wir uns, der Rucksack und ich, immer mehr dem schmalen Felsenband. Wohl denn, das Muotathal lag unten in einiger Entfernung friedlich im Schatten, und mir wurde immer wärmer. Den abgestorbenen Baum, der seine knorrigen Äste flehend in den Himmel streckte, sah ich zu spät, und kratzte mir die bleichen Waden auf. Mit den aufgekratzten Waden war ich so beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie der Express klammheimlich seitlich an mir vorüberzog. Zu spät, als ich ihn sah. Wie sollte ich nun an ihn herankommen und das Seil aushängen.

Ich suchte nach den Hütern der Gesetze. Vergeblich. Neben dem Zivilgesetz und dem Obligationenrecht gibt es ja noch einige Gesetze mehr, die unser Land befehlen. Aber das wichtigste – in meiner momentanen Situation – war hier klar das Gesetz der Schwerkraft.
Hm, versuchte ich Logik in die Sache zu bringen, und dachte nach. Mein Kletterpartner hatte mir garantiert, dass unten das Seil befestigt sei oder, was er als weitere mögliche Variante vorgegeben hatte, im Mindesten ein Knoten am Seilende angebracht sei. Ich zog am Seil. Ich konnte das Ende sehen – weder festgemacht noch ein Knoten. Hm, dachte ich, jetzt gibt es zwei Varianten, denn der Klettergurt schnitt mir inzwischen unangenehm das Blut in den Adern ab. Die erste Variante: Du ziehst das Seil aus dem Express und seilst dich friedlich bis zum Absatz ab – vorausgesetzt, das Seil ist lange genug. Und der Express hängt oben eben weiter, wo er ist. Die zweite Variante: Du schreist nach oben. Ich wählte die zweite, sie war mir, ganz unheldenhaft, die einfachere. Bis mein Kletterpartner zur Stelle war, genoss ich baumelnd die Aussicht in der Morgensonne. Es war Montag. Die Woche stand unter einem guten Stern, wenn nicht gar unter einem guten Gesetz. Dem Gesetz der Nächstenliebe. Mein Kumpane erlöste mich vom Ungemach, zog den Express ein, und unten auf dem Absatz war ich dann gesetzlos einer 6a+-Route ausgesetzt. Da half kein Flehen, keine Ausrede und kein Augenklimpern. Da musste ich durch, also hinauf. Die mit Magnesium gekennzeichneten Stellen meines Gefährten sollten mir den Weg weisen, aber wegweisend war schlussendlich die Erkenntnis, dass eine 6a+-Route für unsereins als ungeeignet abgehakt werden kann. Ich kam hinauf, ich schwörs auch diesmal, aber nur mit dem Gesetz der Nächstenliebe, vielem Ach und Weh und mit gutem Zureden. Und mit meiner letzten Kraft.

Fundsache

Berge sind geduldig. Meine Unruhe mögen sie nicht. Berge zwingen mich zum Loslassen, bringen mich zum Schweigen und lassen mich vergessen, was wichtig schien. Ich finde Ruhe. Dort, wo die Täler weit unten liegen. © Annette Frommherz

Ich schlage die Zeit tot
wo sie noch lebt
Ich fülle die Lücken
die noch gestopft werden können
mit sinnlosen Tätigkeiten
von denen ich glaube
sie seien unentbehrlich
Ich renne der Hetze entgegen
und tue wichtig
klemme mir die Mappe unter den Arm
und sammle alle unnützen Dinge ein
die am Strassenrand liegen
Stress und Sorgen und Gleichgültigkeit
und stopfe sie in die Abflussrohre
Ich passe auf
dass ich nichts verpasse
Ich tue so
als wäre ich so
und führe Zwiegespräche
mit dem inneren Schweinehund
erhalte keine Antwort
nur das Gurgeln des Baches
und das Räuspern des Windes
lassen sich ein
und kehren den Spiess
Die Aussicht sieht mich
fordert mich auf
umzudenken
abzulenken
durchzuatmen
und ich schaue
bis es blendet
nichts verpasst
alles gefunden
was nicht bleibt
und doch mir erlaubt
mich hinzusetzen
zu nichts nutze
und die Hände
auf die Knie zu legen

Nackt auf den Pisten

Die einen sammeln Flugmeilen oder Anstecknadeln, wir die kleinen Auszeiten. Wie auch immer wir sie verbringen. © Annette Frommherz

«Du gehst?» Sein Blick ist erstaunt.
«Ich will mich mal wieder meinem Sohn zeigen.»
Sein Schmollen steht ihm gut. Unterlippe vorgeschürzt, Seehundblick, Hände auf dem Rücken. «Ich könnte ein Fondue kochen, etwas Brot hat es noch.» Und er schaut mich aufmunternd an.
«Ich sollte doch…», versuche ich.
«Soll ich Fondue etwa alleine essen?» Den leichten Vorwurf umwickelt er mit etwas Charme. Ich schmelze wie der Käse, den er bald im Caquelon rührt. Er verspricht mir sogar Hüttenromantik, stellt Kerzen auf den Tisch und den Kirsch Eigenmarke dazu. Die rot/weiss karierten Vorhänge, sagt er, könne er leider nicht bieten.

Es ist der gelungene Abschluss eines Tages, den wir uns samt dem Abend loben. Die Flumserberge zeigten sich zwar wettermässig nicht von der besten Seite, dafür hatte es etwas neuen Schnee, den wir antrafen, als wir die Pisten testeten. Aus den mageren Höhenmetern, die wir in letzter Zeit aus eigener Kraft ergattert hatten, ergaben sich keine ausgiebigen Abfahrten, so dass wir für heute diese Variante in Betracht ziehen mussten.

Ohne LVS und Rucksack mit Schaufel fühlen wir uns etwas nackt auf den Pisten, auf denen sich die Zivilisation tummelt. Keine lautlos stiebenden Schwünge im Tiefschnee, nur wilde Jagden von Skiern und Snowboards um uns herum, dass es mich schaudert. Einen Helm trägt nur er, ich habe mir bis zum heutigen Tag keinen aufdrängen lassen.

Im Restaurant schreiben sie Rindsragout aus und Kalbsmedaillon und Crevetten. Die Gastronomie hat sich den Berg hinauf geschlängelt und fast unbemerkt Nouvelle Cuisine, tote Tiere und städtische Preise auf die Karten gesetzt. Wir vermissen die Käseschnitten und das Raclette und suchen umsonst nach der Gerstensuppe. Und – wenn ich ganz ehrlich bin – vermisse ich unser Stück Käse und das gebrochene Brot, das wir manchmal, sitzend auf unseren Rucksäcken, mit Heisshunger verzehren, irgendwo und nur von Stille umgeben. Hier in dieser lärmig trendigen Skihütte müssen sogar die Älplermakronen einen Tag im voraus bestellt werden. Es wird immer besser, denke ich und sagt er.
Aber wir verachten dann doch den heissen Eierlikör mit Schlagrahmhaube nicht. Auch sonst lassen wir uns gerne bedienen, vor allem mit Kaffeenachschub. Und das ist ja das Schöne an der Piste, das vor allem ich sehr schätze: hier gibt es Kaffee an jeder Tankstelle.

Wir rühren also in der Käsesuppe, der Kirsch wärmt von innen. Es ist der erste Wahlsonntag dieses Jahres. Die Bürger der demokratischen Suppe haben soeben bestimmt, dass Zweitwohnungen in diesem kleinen Land nur noch begrenzt gebaut werden dürfen. Unsere Stimmen waren auch für dieses Resultat, denn wo kämen wir hin aus lauter Platzmangel. All die kalten Betten in Häusern, die in die Felsen der Berge gebaut werden müssten. Oder die Seen, die für Wohnraum entwässert würden? Ich mag nicht daran denken und rühre weiter. Einen Kuss pro Mocken, der in den Käse fällt, das ist die Abmachung. Am Schluss steht 4:1 für mich.

Zeitlupe

Wäre ja gelacht, wenn ich mich wegen meinem lädierten Magen von unserem Vorhaben abbringen lassen würde. Winter ists noch immer und die weissen Hänge rufen. © Annette Frommherz

Mir ist schlecht. Sich unter der Decke verkriechen und die Skitour absagen? Das kann ich meinem Liebsten nicht antun. Er, der sich im Winter von der Vorfreude ernährt und Skitouren mit einer Gier konsumiert wie unsereins Pommes Chips. Schnee, ist er der Meinung, sei für den raschen Gebrauch bestimmt. Denn im Juli muss ich, sagt er, auch nicht mehr Schnee pflügen. Wo er Recht hat, hat er Recht. Also nicht nur schnell, sondern auch oft auf Skitouren; das ist sein Leitsatz, und an diesen hält er sich strikte.

Seit vier Uhr liege ich wach und bin unentschlossen, ob ich mir das gestrige Nachtessen nochmals durch den Kopf gehen lassen soll. Der Wecker schrillt um viertel nach fünf. Geht es, werde ich gefragt. Ich zucke mit den Schultern und nicke mit dem Kopf. Das geht noch. Also beschliesse ich, die gemietete Skitourenausrüstung nicht ungebraucht zu retournieren, und stehe auf. Frische Luft und etwas Bewegung kann nicht schaden, rede ich mir ein und hoffe ich. Mein Magen ist empört. Ich versuche, ihn zu ignorieren und esse als Kampfansage ein Stück Brot.

Später, die Sonne steht schön ausgestellt am Himmel, ziehen wir im Glarnerland dem Obersee entlang. Tief durchatmen, mahnt meine innere Stimme, aber die elend unzähligen Kurven hier hinauf haben meinen Zustand wenig gebessert. Zum Glück ist das erste Wegstück eben. Eigentlich wollten wir auf den Rautispitz, aber die tausenddreihundert Höhenmeter sind für mich definitiv ein Ding der Unmöglichkeit. Der Lachengrat ist die Variante. Ich bin froh, denn inzwischen sind wir schon im fortgeschrittenen Vormittag angelangt. Mein Gang fühlt sich so schleppend an, als müsste ich aufs Schafott.

Wir fellen den Nordhang hinauf, als sich gegenüber am Redertengrat Wächten lösen und weiter unten liegende Schneemassen mitreissen; bis keine zweihundert Meter vor uns. Vielleicht sind es auch einige Meter mehr, aber es mutet so nahe an, dass es meinen Puls höher schlagen lässt. Keine vier Wochen ist es her, seit ein Kollege meines Liebsten den Weissen Tod gestorben ist. Ein überaus vorsichtiger Bergführer sei er gewesen, lasse ich mir sagen. Nun stiebt der Schnee, vermischt sich mit braunem, erdigem Gestein und bahnt sich wie in Zeitlupe den Weg nach unten, bis die Masse zum Stillstand kommt.

Ganz hinauf auf den Grat habe ich es nicht geschafft. Mein Magen aber hielt durch, ich im mässigen Tempo auch. Schliesslich wollte ich die weissen Hänge nicht unnötig verunsäubern. Und draussen waren wir, draussen. So wie Mutter es früher befohlen hat.

Shakespeare auf des Berges Blog

Ein einig Volk hätt’ ich auf meiner Seite, wenn es denn eines gäbe. So sprech’ ich vor versammelt’ Schar, wo keine ist. Es mag mich nicht vergrämen. © Annette Frommherz fallenflue-01-2009-71

Es war mir Sturm in Reihe neun. Mir drang die Stimme Prosperos an meine Lauscher, so voll, als käm’ sie aus des Meeres Tiefen. Fest hielt er sich mit seinen Klau’n an scharfer Felsenkluft der Insel, wo er strandete; die Tochter fest an seinen Leib geklammert. Noch seh’ ich kein Vereinen, der ich bedien’ mich könnt’, damit die Worte eilten zu den Bergen hin. Finden werd’ ich sie nun müssen, damit berechtigt sie erscheinen, hier zu landen. Das wird so leicht nicht sein.

All das ertrüg’ ich besser, wenn Ariel mit irren Augen mir nicht den Kopf verdrehte. Husch war er hier, husch wich er aus, dem Ungemach, und war doch stets der Diener seines Meisters. Caliban, das raue Vieh, gedieh zu Unmut der Besetzer. So rund und kahl sein Schädel, so klar und scharf die spitze Zunge. Im Reich der Fantasien tanzten auch die Wörter ihre Reigen. So frei und ungezwungen, als wär’ die Welt ihr eigen’ Pflaster. Es war mir Sturm in Reihe neun.

Der gute William sei hoch geehrt. Wie er bedien’ auch ich mich dem Konstrukt, er wird es mir verzeih’n. Mein Herr, wenn Sie gestatten: eure Wort’ sind wohl erschaffen, sie weiter in die Welt zu tragen. Dort, wo die Macht der Mächtigen die Ohnmacht der Ohnmächtigen beherrscht. Auch wenn solch’ Worte kaum so fliessen mögen wie die Ihren. Wenn Sie die Güte haben, grosser Herr, werd’ ich Sie weiter ehren wie bislang. Will ich zu Füssen Ihnen auf ewig liegen.
Und wie ich dies so dacht’, so sagt’ ich zu mir eigen: wozu hab’ ich denn Sprache mir gelehrt? Dass ich mich ihr bedienen könne, gab ich mir Antwort selbst. Denn da war keiner.

Als wär’ ich nicht vom Fels umstellt an manchen Tagen, so holt’ ich tief die Luft aus meinen Lungen, um so dem Denken Raume zu verschaffen. Dem Sinn nach find’ ich keine Parallele mit dem Dichter und Gedachten. Es ist, als diente es der Prüfung meiner Liebe. So bat ich mich vorerst, dem allem zu entkommen: Ich bin doch nicht, so sagt’ ich mir, vor dem Ertrinken davongeschwommen, dass ich nun vor dieser Wand verlorengehe! Und wenn mir einer sagt: Ihr taugt nicht für des Berges Gut, so schenkt’ ich ihm den Glauben.

Und wie dies’ Schauspiel sich dem Ende näh’rt, wollt’ ich es nicht beenden. Dies’ Spiel des Schauens, das mich schaudern macht und Stoffe mir bedacht, sich dieser zu bedienen. Nur sucht’ ich noch nach dem Verbund, was Berg und Shakespeare einig wiegen mögen. Und fand’ gar wenig, was im Endlichen verlaufen könnt’. Mir fällt es leicht, den Faden zu verlieren, der mir vom Felsen glitt. Drum sei gesagt das Wichtigste von allem: Es war mir Sturm in Reihe neun.

In Anlehnung und frei nach dem Schauspiel ‚Der Sturm’
Von William Shakespeare (1564 – 1616), Aufführung Schauspielhaus Zürich, Januar 2012

Die Brut hüten

Mütter hören nie auf, sich wie Mütter zu benehmen. Vor allem, wenn es die Töchter in die Berge zieht. Dann klagen sie und stöhnen und wollen nicht verstehen. Wie gefährlich sie selber leben und nicht die Töchter, darüber schweigen die Gipfel. © Annette Frommherz fallenflue-01-2012-24

Musst du schon wieder in die Berge, wo doch.
Ist es nicht unvernünftig, jetzt wo.
Habe ich dir noch nie gesagt, wie schnell.
Kommt das gut, wenn du immer.
Kannst du dich darauf verlassen, dass er.
Mir wäre viel lieber, wenn du endlich.
Ist das nicht gefährlich, wenn ein Gewitter.
Du hast einen Sohn, hast du daran.
Kannst du nicht mal ruhig zu Hause bleiben, da ist es doch auch.
Hält das Seil, das doch so.
Alles spricht dagegen, nur du musst.
Gibt es nicht solches, was weniger.
Bist du dir bewusst, dass mir jedes Mal.
Bleib doch beim Schreiben, das ist nicht so.
Musst du das unbedingt tun, um dich.
Geh lieber tanzen, das ist sowieso.
Kann er dich halten, wenn du.
In deinem Alter gibt es doch einiges, was wirklich.
Willst du nicht lieber weiter unten, das wäre viel.
Weisst du eigentlich, wie viele Bergsteiger pro Jahr.
Kannst du das nicht sein lassen, wo du doch.

Dann stolpert sie eines Tages.
Die Beste aller Mütter.
Als sie über einen Parkplatz läuft.
Bricht sich das Handgelenk.
Wie kann man nur.
Über einen Parkplatz laufen.
So etwas Gefährliches würde ich nie tun.

Unwissende Lawinen

Das Lawinenbulletin meldet erhebliche bis grosse Lawinengefahr. Gerade richtig, um einen Lawinenkurs abzuhalten. Draussen. Da, wo das Wetter stattfindet. © Annette Frommherz fideris-lawinenkurs-01-2012-2

Es ist unter Berglern ein alteingesessener Spruch: ‚Die Lawine weiss nicht, dass ein Bergführer dabei ist’. Was heissen mag, dass auch erfahrene und ausgewiesene Bergführer einem Restrisiko ausgesetzt sind. Die Natur ist unberechenbar. Der Mensch fühlt sich erhaben und geistreich und ist auf Mutter Erde ein doch gleichwohl unbedeutendes Wesen, das hier nur zu Gast ist und sich unterordnen muss. Ob ihm das passt oder nicht.

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Die Hänge oberhalb Fideris im Prättigau sind unser Ziel. Fideris, schreibt mir gleichentags ein Kollege, kenne er nur vom Militärdienst. Sie hätten dort mit den grossen Kanonen herumgedonnert und die Kühe erschreckt, von den Gämsen ganz zu schweigen. Männer – nur so nebenbei – scheinen die Schweiz ortschaftsmässig oft nur vom Militärdienst her zu kennen. Wir Frauen sind da viel unbelasteter. In den Heubergen kennt sich unser Bergführer hingegen so gut aus wie in seiner Hosentasche, denn hier ist er gross geworden.
Die Hütten ob Fideris sind mit Schnee satt bepackt. Tags zuvor hat es nochmals vierzig Zentimeter Neuschnee hingeworfen. Der Wind hat ganze Arbeit geleistet: uns empfängt an manchen Stellen frischer Triebschnee. Unser Bergführer schaufelt tief in die weisse Masse, um die verschiedenen Schichten des Schnees zu erklären. Als die ersten begrabenen Alpenrosen zum Vorschein kommen, hoffe ich, er möge mit graben bald aufhören. Wir wollen doch die Murmeltiere in ihrem Winterschlaf nicht stören.
Es ist erstaunlich: als unerfahrene Mitläuferin sieht man die Gefahren kaum und verlässt sich vorerst auf das Wissen des erfahrenen Begleiters. Bald erkennt man, dass dies nicht genügt und Eigenverantwortung in den Bergen von grosser Bedeutung ist. Schaufel und Sonde im Rucksack und ein LVS am Leib sind noch keine Gewähr für richtiges Handeln. Gefahren abschätzen, Alarmzeichen erkennen und daraus richtig entscheiden können gehört genauso zur Notwendigkeit im Schnee wie das Material, das richtig eingesetzt werden will.
Ich habe einiges dazugelernt an diesem einen Tag. Fast hätten wir vergessen, etwas zu essen und zu trinken, so sehr waren wir beschäftigt mit Theorie und Tiefschnee. Heu habe ich auf den Heubergen keines gesehen, dafür jede Menge dieses weissen Pulvers, das mir je länger je lieber wird.