Über den Säntis

Warum steigt ihr auf Berge? Dann noch solche, auf die eine Seilbahn gerade Hunderte von Ausflüglern befördert? Gewiss nicht wegen der Aussicht.

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Irgendwann ist mir der Floh ins Ohr gesprungen: Zu Fuss auf den Säntis! Okay, im vergangenen Herbst sind wir von der Ebenalp hinaufgewandert, haben im Alten Säntis übernachtet und bewunderten vom Bett aus den Sonnenaufgang. Nun habe ich mir die Nordflanke vorgenommen, von der Schwägalp aus, erschreckend mächtig baut sich da der Berg auf vor einem, fast schon gar eine Eigernordwand, halt einfach Grashänge zwischen den Felsbändern statt Eisfelder, 1249 Höhenmeter. Ich bin an diesem kühlen schönen Spätsommermorgen nichtmal der Einzige, im Gegenteil. Wie ich da hinaufschaue sehe ich eine wahre Ameisenstrasse den Berg hochkrabbeln, hell klickern die Wanderstöcke durch den stillen Tag. Es geht ganz leicht, zu meinem Erstaunen, da ich letzthin nach einer Stunde Wanderung schon total erschöpft auf ein Bänklein sank. Doch irgendwie scheint der Berg zu rufen und ich überhole die ersten Wanderstöckler und dann weitere und bald wird’s zum Spiel. Überholen, «grüezi und merci», aber keinesfalls überholt werden. Die Blumenpracht in den Hängen, der Tiefblick aufs neue Hotel der Schwägalp und den weiten Parkplatz, die Kraxelstellen mit Drahtseilen und Eisendornen, alles wunderbar. Dass nebenan die Seilbahn Stöckelschuhtouristinnen und ihre Begleiter und Anhänge in die Höhe trägt, ist egal. Denn ich steige ja nicht für sie den Berg hoch, ich steige für mich, hier und jetzt und atme ganz leicht und nehme einen Schluck Züriwasser aus der Flasche. Es scheint, der Säntis habe einen Magnet eingebaut, der zieht. Auch die zwei Jungen, die mich ganz am Anfang rasend schnell überholt habe, überrannt beinahe, hole ich ein, und als sie beim Bergrestaurant Tierwies erschöpft auf die Terrasse sinken, tänzle ich vorbei und esse weiter oben nur einen Banane. Ja, vielleicht habe ich noch den Tango in den Beinen von gestern Abend und im Blut Traubenzucker wie jener 98-Jährige, der noch jede Woche auf die Rigi steigt, 800 Höhenmeter in 8 Stunden. Also gut, ich schaffe den Säntis in zweieinhalb.
Meine Tour ist übrigens auch eine Erinnerung an einen der grossen Bergsteiger der Ostschweiz, Seth Abderhalden, der am 20. November 1960 auf diesem Weg in einer Lawine ums Leben gekommen ist. Halte Ausschau ob da jemand vielleicht ein Täfelchen montiert hat, aber ich finde keines. Nur von einer Frau vernehme ich im Vorbeigehen, dass ein Bekannter im Winter hier heraufgestiegen sei, mit Pickel und Steigeisen, und da und dort sehe ich einen Bohrhaken, der offenbar den Winterbergsteigern als Sicherung dient. (Kurze Erinnerung an den Südwestpfeiler des Grossen Drusenturms, eine Route von Seth und Peter Diener, etwas vom Schrecklichsten, was ich je geklettert bin in meiner extremem Jugendzeit. Schwer und brüchig gefährlich und nur dank meinem furchtlosen genialen Kletterfreund Hansruedi habe ich die Tour überlebt.)
Leute kommen mir entgegen, die mit der Seilbahn hochgegondelt sind und nun auf dem Weg absteigen – auch das gibt es. Eine Frau fragt, ob man bestraft würde, wenn man ein Edelweiss pflückt. Ich kann sie beruhigen, aber sie hat ja gar keines. Dann eine Familie mit einem Kind, das mir nicht grösser vorkommt als meine Enkelin, die gerade Laufen gelernt hat.
Bei der Himmelsleiter, die ich vom vergangenen Herbst kenne, ist mir ein Paar mit Hund auf den Fersen, doch kann ich sie noch abhängen, denn die Eisenstufen und Stifte und Drahtseile findet der Hund offenbar gar nicht so himmlisch.
Dann sitze auf der Terrasse des Alten Säntis bei Kaffee und Apfelkuchen. Und hetze gleich weiter, ein rüstiger Rentner ohne Wanderstöcke (ja, das gibt’s noch, eher selten zwar), über den Lisengrat zum Rotsteinpass und hinab nach Unterwasser. Eher langweilig talaus, zur Abwechslung stürzen mir im Morast einer Alp ein paar Schwein entgegen, zum Schluss noch militärischer Marsch auf Asphalt. Dann ein kurzer Abstecher zu den Thurfällen, «der Quelle aller Dinge», wie der Toggenburger Schriftsteller Peter Weber schreibt, der hier im Rauschen des Wassers Inspiration empfangen hat. Der rasende Rentner allerdings, ein Eile, das Postauto noch zu erreichen, verzichtet auf Inspiration und Meditation und knipst nur ein paar Föteli.

Hüttenlesung

Auch SAC-Hütten feiern Geburtstage. Die Cadlimohütte zum Beispiel den hundertsten. Anlass für eine kleine Lesung zwischen Spaghetti und Dessert.

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Die Idee ist scheint’s in Finalborgo entstanden, wo das Hüttenwartpaar Christine und Heinz in der Spaghetteria am Nebentisch sass. Ich hab’s vergessen, aber einerlei. Ich bin da, den Aufstieg vom Ritomsee her geschafft zur Hütte, die ich ohne die Einladung zur Lesung wohl nie mit einem Besuch beehrt hätte. Warum auch? Die Frage haben sich wohl viele schon gestellt. Warum hat die Sektion Uto im Kriegsjahr 1916 an diesem Ort fern eines bedeutenden Gipfels eine Unterkunft gebaut? Selbst der Hüttenverwalter an unserem Tisch weiss keine Antwort. Aber nichts desto Trotz sei sie seit Anbeginn gut gelaufen und heutzutage, wo Bergwandern Trendsport geworden ist, ohnehin. Tessin ist Wanderland und diese Gneisgegend, wo ein wunderschöner See den andern ablöst, ist ein Wanderparadies – beliebt auch bei Bikern wie jenen, der sich verspätet hat und dann dankbar in der Hütte eine Matratze zum Schlafen findet. Natürlich nicht wie wir im Separée bzw. Winterraum oder Hundekammer, je nachdem. Zuerst muss ich natürlich den Aufenthalt abverdienen, vor dem Znacht und nach dem Hauptgang Geschichten vorlesen. Zum Glück gibt’s in der kürzlich sehr schön erweiterten Hütte zwei Räume, so können die Literatur-Uninteressierten und die zahlreichen Kinder weiter spielen und jassen und schwatzen, während ich die Alpin-Literatur-Interessierten in geschlossener Gesellschaft unterhalte. Es ist bei so Hüttenlesungen ja immer alles ein bisschen ad-hoc, auch die Einführung des Autors beschränkt sich meist wie hier auf: «Du stellst dich doch selber vor, gell. Ich muss jetzt halt leider wieder in die Küche.»
Na ja, so verpasst halt der Hüttenwart, der direkt unter dem Grossen Mythen aufgewachsen ist, schliesslich auch meine Hommage an die Mythen und seine Nussgipfel. Wie bei Hüttenlesung so oft komme ich mir wie der Hase in der Fabel vor, denn es heisst: «Franz Hohler war auch schon da.» So gebe ich mir denn redlich Mühe, auch mit dem Zwei am Rücken eine anständige Figur zu machen. Oh, da kauft sogar jemand ein Buch und dann erst noch ein prominenter Hüttengast: Vasco Pedrina, als Co-Präsident der Unia ehemals «mächtigster Gewerkschafter der Schweiz». Mit seiner Frau ist er zum ersten Mal von seinem Heimatort Airolo hier heraufgestiegen, auf Rat seines Nonnos hin «nur bei stabilem Wetter, da man sich sonst im Nebel schön verirren könnte».

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Nun, das Wetter ist stabil, die Hütte voll, die Stimmung gut. Mit Vasco tausche ich ein paar Remineszenzen aus meiner Gewerkschaftszeit aus und auch für ihn habe ich noch einen Tessin-Text als Hommage auf Lager.
Auch sonst lernen wir sehr nette und tüchtige Wanderer und Wanderfrauen kennen, mit denen wir uns prächtig unterhalten und am nächsten Tag zusammen zum Lukmanier wandern können. Also durch Gegenden, in die wir sonst nie verirrt hätten. Unsere neuen Freunde ziehen weiter, wir dagegen besteigen das Postauto, erhitzt und glücklich über zwei feine Tage in den Tessiner Bergen. Als Erinnerung kommt auch noch ein dickes Stück Käse vom Kiosk mit.

Ein schöner Sonntatg

Heute einmal nicht in den Bergen, sondern auf dem Velo im flachen Land. Mit schweren Gedanken im Gepäck.

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Mit dem Velo fahren wir über Land, Kirchglocken klingen, der Himmel wolkenlos, die Berge blau und fern. Wie wir so dahingleiten und die Gedanken dahintreiben, fällt mir ein ebenso schöner und friedlicher Sonntagmorgen ein, und ich rechne und es ist fast auf den Tag genau 65 Jahre seither. Sommer, Sonne, die Berge im Blau. Auch meine Mutter stieg damals aufs Velo, die Kirchglocken klangen, sie musste sich beeilen um rechtzeitig zum Gottesdienst ins Nachbardorf zu kommen. Ich konnte nicht mitfahren, wie so oft hinten auf dem Gepäckträger, ich musste oder durfte zur Sonntagschule ins Dorf.
Meine Mutter war eine tüchtige Bergwanderin, eine starke Bergbauerntochter, eine tüchtig Fabrikarbeiterin. Ich erinnere mich an gemeinsame Wanderungen auf die Chrüzegg oder im Glarnerland auf Mettmen und zu Verwandten auf die Braunwaldalp. Ein bisschen übermütig sei sie manchmal gewesen, sagte mein Vater, er habe sie einmal im Durnachtal aus den Felsen herunterholen müssen. Sie habe einfach gerade hinuntergewollt, obwohl er wusste, dass da kein Weg war. Ein schönes Foto zeigt die beiden auf einer Bergwanderung zur Claridenhütte mit Stöcken und groben Schuhen und meine Mutter in einem fast eleganten Kleid mit Jäcklein und Rock. Was für eine schöne junge Frau sie doch war. Als Kind ist man sich das gar nicht bewusst.
Nun also, an jenem schönen Sonntag hatten wir keine Wanderung vor, Vater war in Frankreich in den Ferien. Es war übrigens der 29. Juli, der Tag, an dem Hugo Koblet als Sieger der Tour de France mit grossem Vorsprung in Paris einfuhr. Ein historischer Velotag also.
Meine Mutter stieg auf ihr neues Velo, das keinen Rücktritt mehr hatte, wie das alte, sondern Übersetzungen. Sie fuhr hinab ins Dorf und an der Einmündung zur Landstrasse krachte sie in ein grosses schwarzes Auto, das in gemächlichem Tempo daherfuhr, am Steuer ein Bäckermeister und neben ihm seine Geliebte. Sie hatte wohl mit dem Rücktritt bremsen wollen, vermutete man später, sei sich noch nicht ans neue Velo gewöhnt gewesen.
Nun, diese Geschichte habe ich so oft schon erzählt, sie füllt ein ganzes Buch (Lebensgefährlich verletzt). Heute an diesem schönen Sonntag ist es wahrscheinlich genau 65 Jahre her seit der Beerdigung meiner Mutter.

An der Betonwand

Was tun an einem schönen Sommertag, wenn Kletterpartner fehlen? Wenn die blauen Berge locken und die Sehnsucht einen fast verzehrt?

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Es ist zum Verzweifeln. Ein perfekter wolkenloser Tag nach dem andern, beliebig freie Zeit, doch niemand, der mit einem in die Berge oder an die Felsen käme. Die Jungen sind bestimmt auf grossen Routen unterwegs – sie anzurufen getraut sich der Alte ohnehin nicht – die Altersgenossen verbringen diese Wochen im Ferienhaus mit den Enkeln, vermutet man. Ein Mail schicken? Aufs Handy anrufen? Ich hab’s ja ein paar Mal versucht, irgendwann gibt man auf.
Gegen Abend wird der Leidensdruck zu gross, ich packe Kletterschuhe in einen Migrossack und mache mich auf zur Uni Irchel. Unterwegs stoppt ein Elektrobike neben mir, ein Bekannter, braun gebrannt, schwärmt vom Matterhorn, das er gestern mit Bergführer überschritten hat. Zmutt auf, Hörnli ab, er nennt fantastisch kurze Zeiten, die ich gleich wieder vergesse. So wie ich das Matterhorn vergessen habe. Schon lange. Seit dem schrecklichen Unfall damals …
«Tschau und machs guet …»
Die Betonwand beim Sportzentrum liegt im Schatten, tatsächlich trainiert da ein Junger mit Kraushaar. Kurzer Blick. Ich ziehe die Kletterschuhe an. Die Wand ist knifflig, winzige Griffe und Tritte. Der rohe Beton fühlt sich an wie kleinkörnige Nagelfluh. Risse, Leisten, Schuppen, Überhänge, alles ist da. Geht ganz schön in die Finger, ist auch bestes Training fürs Stehen auf fast nichts und fürs Gleichgewicht. Es gibt auch grosse Griffe für Anfänger (oder wenn’s nicht anders geht), da klettert jetzt eine junge Frau in Turnschuhen ganz hinauf. Also ich würde das nicht unbedingt wagen, die Wand ist zu hoch für einen Sturz. Der Kraushaarige ermutigt sie. Dann verbeisst er sich wieder in eine Kombination aus winzigen Griffchen im überhängenden Teil, putzt sie mit der Zahnbürste. Versucht wieder und wieder. Er bietet mir Magnesia an. Ich schaue mir mal sein Problem an, keine Chance, die Griffchen zu halten.
Trotzdem sagt er: «Du hast sicher schon viele Klassiker geklettert.»
Vielleicht ist das ja ein Lob. Er kommt aus Dresden, ein Elbsandsteinfreak. Klettert auch im Bockmattli, im Jura, auf der Galerie. Hat leider nicht gerade viel Zeit, Prüfungen.
«Bockmattli, war mal mein Gebiet», sage ich.
«Hast du den Supertramp geklettert?»
«Vor vielen Jahren.»
«Donnerwetter!»
«Ich war dort mit einem super Kletterer. Hätte nicht alles vorgestiegen.»
Stimmt nicht ganz. Ich bin wohl gar nichts oder vielleicht eine leichtere Seillänge vorgestiegen.
Ich weiss nicht, ob ich wieder mal mit meinem Alter kokettiert habe, obwohl ich mir das ja abgewöhnen will. Jedenfalls schätzt mich der Junge auf fünfzig, vielleicht ein bisschen darüber … Mein wahres Alter glaubt er nicht.
«Du kannst ja mal googeln. Gib einfach Emil, Kletterer, Zürich ein. Dann findest du mich.»
Ob er es gemacht hat, weiss ich nicht. Jedenfalls packe ich zufrieden meine Schuhe ein und fahre nach Hause. Fast ein bisschen beglückt. Wie wenig braucht es doch.
Doch heute bin ich wieder verzweifelt. Strahlender Tag und gar nicht mehr so heiss. Eigentlich perfekt für die Galerie im Morgenschatten, dann hinab an den See zum Baden. Ich sitze am Computer, die Storen heruntergelassen, schreibe. Schon als junger Mensch habe ich geschrieben, wenn ich nicht klettern konnte. Aus Verzweiflung, Sehnsucht, was immer auch. Man sagt doch, im Alter kehre man wieder zurück in die Jugend und Kindheit. So ist es wohl. Auf die Betonwand verzichte ich heute.

Bild vom Internet.

Kurze Geschichte einer literarischen Bergfahrt

Bergsteiger wissen: hinter jedem Gipfel taucht ein neuer auf, ein noch höherer. Nach sechs literarischen Bergfahrten im Richisau und in Amden war das Bergfahrt-Festival in Bergün «einsame Spitze» – hoffentlich nicht die letzte.

Kurhaus Bergün – Leuchtturm des Bergfahrt-Festivals
Kurhaus Bergün – Leuchtturm des Bergfahrt-Festivals

Begonnen hat alles am «13th Festival of Mountaineering Literature» am Bretton Hall College der University of Leeds im Jahr 1999. Der Organisator Terry Gifford, «rock climbing poet», hatte mich eingeladen zu lesen – einen Text aus Graubünden: Cengalo, Cengalo. Zurück in der Schweiz erzählte ich allen, die sich für Berge und Literatur interessierten: «So etwas müssen wir auch haben! Eine Veranstaltunge für Alpine Literatur.» Das Interesse war mässig. Schön, ja aber niemand wollte das anpacken. Bis ich irgendwann mal fand: dann mache ich es halt selbst. Obwohl ich weiss: Organisieren liegt mir nicht. Ermutigt und unterstützt hat mich damals Nick Ryser, der inzwischen leider verstorben ist. Als Mitglied der Kulturkommission des SAC konnte er auch den Club motivieren, das Projekt zu unterstützen.

Anlass für die erste literarische Bergfahrt im Kulturhotel Richisau war der 100ste Geburtstag des Dichters und Bergsteigers Ludwig Hohl. Seine Erzählung «Bergfahrt» gab dem Anlass den Titel, die Schauspieler Gian Rupf und René Schnoz setzten das Stück genial in Szene – ein grosses Erlebnis, während draussen Dauerregen niederprasselte und der Glärnisch von Wolken verhangen war. Dabei waren unter andern Franz Hohler, der schon vom Namen her zu Hohl gehört, Helga Peskoller und Albert Vinzens mit philosophisch-literarischen Beiträgen zum Hohl-Thema «Warum steigen wir auf Berge?». Die Technik war noch einfach, der Saal für die über hundert Gäste eigentlich zu klein.

Für die folgenden fünf «Bergfahrten» fanden wir den schönen Saal in Amden, historich «andiamo monte», mit phantastischem Blick über Walensee und Linthebene zum Glärnisch, stets ohne Wolken. Das Wetter war immer schön, obwohl ich mir stets Regen wünschte um auch jüngere Alpinisten anzulocken, was schliesslich mässig gelang. «Ich komme gern, wenn das Wetter schlecht ist.» Auch die Ammler, wie sich die Einheimischen nenne, liessen sich nur spärlich blicken, trotz Unterstützung der Bergfahrt durch die Gemeinde und die lokale Bank, den Kanton St. Galle und die Stiftung Gartenflügel in Ziegelbrücke, dazu Migros Kulturprozent.

Nebst Lesungen, Diskussionen, musikalischen Beiträgen fand es stets auch eine dramatische Produktion statt:

Mit Gian Rupf und René Schnoz: «Meinetwegen zugrunde gehen» nach Hans Morgenthaler; «Frisch am Berg» nach Max Frisch; «Der Russ im Bergell» nach Christian Klucker mit Text von mir.

Gian Rupf und Hans Hassler: «Sez Ner» nach Arno Camenisch.

Gian Rupf und Mona Petri: «Der Weg zum Himmelsgebirge» nach Annemarie Schwarzenbach und Lorenz Saladin, Montage von mir.

Gian und René habe die Stücke weitergetragen, oft buchstäblich von Hütte zu Hütte wandernd aber auch auf Bühnen und in Beizen, unter dem Label bergtheater.ch.

Namhafte Referentinnen und Referenten konnten wir gewinnen, unter andern Robert Steiner, Andy Kirkpatrick, Ines Papert, Kurt Diemberger, Nicole Niquille, Silvia Metzeltin, Heidi Schelbert, Ruth Steinmann, Patricia Purtschert, Oswald Oelz, Franz Hohler, Karin Steinbach, Roland Heer, Christine Kopp, Leo Tuor, Fabio Pusterla, Daniel Anker, Mario Casella. Und stets waren auch Jungautorinnen und -autoren dabei, unter andern Caroline Fink, Sabina Altermatt, Felix Ortlieb, Annette Frommherz, Maya Albrecht.

Musikbeitäte von Domenic Janett, Hans Hassler, Manuel und Stephanie Lobmayer, Andreas Weissen und Franziska Baumann mit ihren «Gletschergesängen».

Die Technik ist immer komplizierter geworden, meine schlaflosen Nächte zahlreicher. Die Zeit war reif, das Projekt an jüngere Leute weiterzugeben, neu aufzustellen. Aus der «Bergfahrt» ist ein «Bergfahrt-Festival» geworden, aus «andiamo monte» Bergün. Vielleicht hat mein Bündner Cengalo-Text aus Leeds unbewusst oder über geheime Fasern den Weg aus Britannien nach Graubünden bewirkt.

Der letzte Tango am Bergfahrt-Festival
Der letzte Tango am Bergfahrt-Festival

Jedenfalls: ein Glücksfall, das erste Bergfahrt-Festival. Als mich am Sonntagnachmittag auf dem Bahnhof Bergün vor der Abfahrt jemand fragte: «Wie fühlst du dich nun?» Da sagte ich: «Ich bin glücklich!»

Glücklich, das die Idee weiterlebt, viel grösser, grossartiger, umfassender, vielfältiger, spannender als ich mir das je erträumt hätte. Drei Tage von einem Höhepunkt zum andern, wobei man stets die Qual der Wahl hatte zwischen Lesungen, Diskussionen, Konzerten, Filme, Gesprächen, Begegnungen, Kunstaktionen, Aussellungen, Gerstensuppe am langen Tisch, Kuchen im Kurhaus, Theater, Surprises und und und … Und alles eingebunden in das schöne Dorf Bergün und das historische Kurhaus in den Bergen, perfekt organisiert, literarisch, kulturell, politisch, philosophisch, musikalisch, persönlich.

Einfach phantastisch. Gelegentlich kamen mir auch Tränen, Tränen der Rührung, des Abschieds, des Glücks. Was will man mehr?

Unendlichen Dank den Initiant/-innen und Organisator/-innen Caroline Fink, Maya Albrecht, Gian Rupf, Lieni Roffler, Annina Giovanoli und allen weiteren Mitarbeitenden und Freiwilligen und Besucherinnen und Besuchern, Dank für alles.

Fotos © Marco Volken

Todsicherer Sport

Vor zwanzig Jahren gab es eine Schweizer Kletterzeitschrift «Ravage». Die kürzlich veröffentlichten Unfallzahlen haben mich erinnert, dass ich damals eine Kolumne geschrieben habe zum Thema. Scheint noch immer aktuell: Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre gab es drei Tote bei Kletterunfällen in der Schweiz.

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Ist Klettern eigentlich noch gefährlich genug? Besorgt studieren wir die Unfallstatistik und stellen fest: Die Chance, in roten Socken und festem Schuhwerk auf einem Wanderweg auszurutschen und ins Leere zu stürzen, ist beträchtlich grösser als jene, in einer Felswand das Genick zu brechen. Wen der Todestrieb treibt, der packt erfolgreicher eine nasse Grashalde an als einen Überhang.

Natürlich wünsche ich niemandem den Tod, und ich bin auch der Meinung, fünf Klettertote im Jahr seien noch immer fünf zuviel. Selbstverständlich freue ich mich, dass sich das perfekte Material, die Bohrhaken, das Training und die verbesserte Technik in sinkenden Opferzahlen niederschlägt. Doch nun sind wir am Punkt angelangt, wo wir Sportkletterer kaum mehr von einem Risikosport sprechen können, es sei denn, wir deklarieren die Anfahrt auf der Autobahn und die Rennstrecke auf der Passstrasse bereits als Zustieg zur Wand. Von den fünf im vergangenen Jahr beim Klettern tödlich Verunfallten kamen zwei nicht einmal im Fels, sondern im Zu- oder Abstieg ums Leben.

Ich habe wahrlich andere Zeiten erlebt, sechzehn war ich, als auf meiner zweiten Klettertour auf den Glärnisch dem Tourenleiter ein Felsblock wegbrach, das Hanfseil zerschlug und ihn hundert Meter in die Tiefe schleuderte. Vier Jahre später stürzten zwei Freunde im Bockmattli zweihundert Meter im freien Fall auf die Alpweiden, ihr Rucksack blieb am Sicherungshaken in der Wand zurück. Das Grauen war damals ständiger Begleiter, vom Einstieg bis zu Gipfel; schrecklicher als die Todesangst an den wackligen Standhaken waren nur noch die Alpträume vor der grossen Tour. Nein, ich sehne jene Zeit nicht zurück, allzu oft traf sich die Klettergemeinde am Mittwoch auf dem Friedhof, gerade recht, um sich fürs Wochenende wieder zu verabreden. Denn ein Grundsatz war: Sofort wieder klettern! Auch nach einem furchtbaren Unglück am Matterhorn, ein Toter, eine Schwerverletzte, sah uns das nächste Wochenende wieder am Berg. Wir kletterten dem Schrecken davon.

Jetzt, als Oldie, freue ich mich, dass Sportklettern eine fast todsichere Freizeitbeschäftigung geworden ist, ein Sport, der am Leben erhält und so sicher ist, dass keine Mama mehr etwas gegen Kinderbergsteigen oder Klettern als Schulsport einzuwenden hat. Wogegen man bei rund fünfzig tödlich verunfallten Wanderern im Jahr eigentlich ein Verbot für Schulwandertage erlassen müsste. Von Skitouren mit nochmals zwanzig bis dreissig Todesopfern ganz zu schweigen.

Trotzdem meine ich: Ohne die Todesgefahr hätte nie jemand Hand an einen Fels gelegt. Wozu auch? Die Gefahr erzeugt Angst, und nur die Angst lässt uns unsere Kraft spüren, wenn es uns gelingt, sie zu meistern. Im Alltag, wo uns tausend verdrängte Ängste belauern, schaffen wir das bekanntlich nie. Im Fels dagegen fast immer. Das Klicken des Hakens nach dem haarstäubenden Runout ist die Befreiung, auf die wir im Büro und am Computerschirm vergeblich warten. Gäbe es in der Wand keine Todesangst, so wäre sie so banal wie das Leben selbst, kein Grund also, sich die Gelenke zu zerreissen. Stets klettern wir also das Topo der eigenen Angst.

Wieviel Opfer braucht also der Berg? Fünf oder fünfzig? Die Frage ist falsch gestellt. Klettern ist ein sicherer Sport geworden, weil sich die meisten Kletterer der Gefahr stets bewusst waren, man blickte ihr ja ständig ins Gesicht. Darum haben wir Kletterer den zähen Lebenswillen entwickelt, der uns in die Wände treibt, aber auch wieder zurück ins Tal. Wir sind Spezialisten im Meistern gefährlicher Situationen oder, wie der Psychologe sagen würde, im Umgang mit unseren Grenzen. Lebenstrieb treibt uns, nicht Todestrieb. Das Sprichwort: «Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um», stimmt eben nicht. Das Gegenteil ist wahr. Die fünfzig Wanderer, die jährlich im Gebirge sterben, haben sich nicht bewusst in Gefahr begeben. Sie sind in der Meinung aufgebrochen, einer durch und durch harmlosen Tätigkeit nachzugehen. Und dann einfach ausgerutscht auf dem nassen Gras. Ähnlich wie die tausend Menschen, die jedes Jahr im Verkehr sterben, ohne sich bewusst zu sein, wie gefährlich die Strasse eigentlich ist.

Vielleicht können wir die Erkenntnis aus der Wand in den Alltag mitnehmen, dass das bewusst gewählte Risiko weniger gefährlich ist als die trügerische Sicherheit. Die Lebensversicherung verhindert keine Katastrophe. Nur wer sich in Gefahr begibt, überlebt.

(Foto Rega)

Traum bleibt Traum

Gestern ein Versuch an meiner Traumroute. Oder besser gesagt, ein Besüchlein. Na ja, es gibt halt Grenzen. Ich träume also weiter.

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Wenn ich keinen Schlaf finde, stelle ich mir oft eine Kletterroute vor, eine ganz bestimmte. Ich kenne sie gut, habe sie früher oft geklettert, sie ist nicht lang, zwanzig Meter vielleicht, aber schwierig (für mein Niveau). Vor meinem inneren Auge lasse ich den Fels vorüberziehen, ich arbeite mich Griff um Tritt höher, hänge die Haken ein, packe energisch den Klemmgriff der Schlüsselstelle links, übergreife mit der Rechten in den Untergriff, spreize in den Halbmondtritt hinüber, finde mit der Linken das entscheidende Zweifingerloch … Vielleicht bin ich jetzt eingeschlafen, oder auch schon früher, unten bei der überhängenden Schuppe … bin kletternd ins Traumland des Unbewussten hinübergeglitten. Mein Einschlafritual funktioniert nicht immer, aber immer nur bei dieser einen Route, auch wenn ich es mit andern auch schon versucht habe. Warum, das ist mir selber ein Rätsel. Vielleicht, weil ich diese Route in Wirklichkeit schon einige Jahre nicht mehr klettere. Ich schaffe sie nur noch im Traum. Das heisst, ich träume immer noch davon, sie eines Tages doch wieder zu versuchen, wer weiss, es könnte ja ein Wunder geschehen. Letzthin war ich so weit, also fest entschlossen, doch es tummelten sich schon ein paar Junge am Einstieg, und da wollte ich keine peinliche Vorführung riskieren. Es ist schon so, einmal ist es zu kalt, dann wieder zu heiss, dann hat es zu viele Zuschauer oder es hat kürzlich geregnet und ein Wasserstreifen zieht über die Route herab. Oder dann bin ich gerade nicht in Form. Na ja, ich klettere sie nun halt im Traum, meine Traumroute.

Als ich ein junger Kletterer war, gab es noch keine Kletterhallen, und wenn es im Spätherbst einschneite in den Bergen, dann war für ein paar Monate aus mit Klettern. Eine grosse Leidenszeit begann, denn ich war damals (schon) süchtig nach Bergen und Felsen. Lag ich im Bett, dann liess ich die Traumrouten des vergangenen Sommers wie Filme vor dem inneren Auge vorbeiziehen, um sie wieder und immer wieder zu erleben. Später begann ich dann, diese Bilder aufzuschreiben, kleine Erlebnisberichte entstanden und ein verständnisvoller Redaktor des Infoblättchens meiner Alpen-Club-Sektion druckte sie ab. Selbst bei der Zeitschrift «Die Alpen» des SAC kam ich einmal zu Ehren mit einem Bericht über eine wilde Klettertour in den Salbittürmen. Im Grunde genommen haben mich meine Träumereien zur Schriftstellerei geführt. Heute scherze ich gelegentlich, wenn es damals schon Kletterhallen gegeben hätte, wäre ich nie Schriftsteller geworden, aber vielleicht ein Vorläufer von Ueli Steck & Co. Ich hätte ja dann im Winter trainiert, statt geträumt und geschrieben.

Der irisch-amerikanische Schriftsteller Frank McCourt erzählt in seiner Autobiografie, wie er als mausarmer Einwandererbub in New York abends in seiner kalten und dunklen Kammer unter die Bettdecke kroch und sich mit «Kino im Kopf» die Zeit vertrieb. Genau so wie ich mit meinen Kletterträumen. Bestätigt hat mich auch der deutsche Schriftsteller Martin Walser mit der Aussage: «Schreibend antworten wir auf einen Mangel.»

Nun, vielleicht werde ich meine Traumroute doch nochmal versuchen, wenn alles stimmt, Temperatur und körperliche Form und auch alles andere. Ich hoffe einfach, dass ich dann an der Schlüsselstelle nicht einschlafe.

P.S.

Gestern stimmte einfach alles, also fast alles. Die Route trocken, keine Zuschauer, vielleicht ein bisschen zu heiss schon. «Ein kleines Besüchlein», meinte meine Partnerin. Also los. Eben hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben. Doch schon beim zweiten Haken schaffte ich das Übergreifen nicht und hing. Irgendwie sah die Stelle doch etwas anders aus als in meinen Träumen. Bei der Schlüsselstelle brannte dann die Sonne wieder auf die Wand, keine Chance, den Zangengriff zu halten. Also ab. Na ja, ich habe die Route schon hundertmal geschafft. Das ist halt schon Jahre her. Aber wie sagt man so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich aber vielleicht doch schon ein bisschen früher …

(Foto Marco Volken)

Di Schnell

Jede Route hat ihre Geschichte, jeder Kletterer, jede Kletterin erlebt sie anders. Es sind nicht die Griffe und Tritte, die zählen. Es sind die Menschen.

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Gestern wieder mal geschafft. «Di Schnell» auf der Galerie ist immer eine Herausforderung – für mich. In neuen Topos ist sie wohl zu recht höher eingestuft als einst: 6c. An der Schlüsselstelle hoch oben gibt’s nichts zu mogeln. Man schafft sie oder schafft sie nicht. Kein Hängen und Hangeln hilft, der letzte Haken will erklettert sein. Und seit der zweitletzte einen halben Meter tiefer gebohrt worden ist, kann man auch schöne Flüge machen. Meine Geschichte beginnt an dieser Stelle, ein kühler Sonntag war’s, viel Volk am Werk. Freunde, Freundinnen, man trifft sie heute nur noch selten hier. Also da hing ich zum ersten Mal und schaffte die Stelle nicht. Eine Express blieb hängen, ich am Boden. Am Boden zerstört. Corinne hatte Erbarmen, kletterte die Route und rettet mein Equipment. Sie war damals gerade im Glarnerland tätig als Lateinlehrerin unserer Tochter. Eine der stärksten Kletterinnen der Szene, hatte einen schweren Kletterunfall im Donautal überlebt.

Manchmal treffe ich sie im Kraftraum, wir plaudern ein bisschen. Corinne trainiert auf dem Laufband für Marathon. Zwischendurch war sie auch mal Airobic-Meisterin. Klettern? Ja, mit ihrem Adoptivsohn in der Halle, sagt sie. Ihr Ehemann ist vor einigen Jahren verstorben, allein zieht sie die zwei adoptierten Kinder auf. Eine kleine, starke, mutige Frau. Vielleicht erwähne ich auch manchmal Die Schnelle und den geretteten Express. Oder wie wir sie einst in San Diego besuchten, nach einer Kletterreise durch die USA, und am Sandstrand vor ihrer Wohnsiedlung im Atlantik badeten,

«Sieht man dich auch wieder mal auf der Galerie?», frage ich. Vielleicht, ja. Dann geht sie nicht zum Laufband, sondern zu einer Stange, macht Aufzüge. Bevor ich gehe, lacht sie mir zu: «Ich schaff noch ein paar.»

Also dann, Wiedersehen. Wie wär’s mit Der Schnellen? Die schafft Corinne bestimmt noch.

(Foto aus dem Jahrbuch SAC 1988. Artikel von Hanspeter Sigrist und Corinne Stutz: Die Rolle der Frau im Bergsteigen und Klettern.)

Drei Falkeneier. Eine Ostergeschichte.

Es war nicht der Osterhase, der die drei Eier in der Höhle hoch in der Kletterwand versteckte. Oggi in stereo, eine Fortsetzungsgeschichte. (Tier- und Vogelschützer bitte nicht weiterlesen!)

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Blicke ich aus dem Fenster beim Schreiben, so sehe ich den Hochkamin der Kehrichtverbrennungsanlage im Hagenholz, Zürich Nord. Im März vor zwei Jahren lag dort ein Wanderfalke tot auf dem Dach beim Hochkamin, vergiftet. Wahrscheinlich von Brieftaubenhaltern, deren wertvollen Schützlingen der Raubvogel an die Kehle ging. Wozu sich aufregen? Tierliebe ist halt relativ.

«Tiere fressen Tiere», sagte letzthin auch unsere Bundesrätin Doris vor laufender Kamera und ihre Kugelaugen blitzten gerade genau so wie jene des Wanderfalken, dem ich vor einen Jahr ins gefiederte Antlitz starrte. Oggi in stereo, man erinnert sich vielleicht. (Doris meinte natürlich nicht Falken und Tauben, sondern Wölfe und Schafe, einerlei.)

Nun, diesen Frühling fehlte der Hinweis «birds eggs! uova di rapace!» am Einstieg, die schöne «Oggi in stereo» endlich wieder frei. Dachte ich.

«Da ist ein Vogel davon geflogen», ruft mir meine Partnerin herauf, aber ich habe jetzt andere Probleme. Die Wand ist steil, doch es geht, es geht. Klimmzug in die Höhle hoch oben. Keine Spur von Nest. Doch als ich mich ein bisschen erholt habe, fällt mein Blick auf drei Eier. Weiss und kugelrund (fast wie die Kugelaugen von Doris). In ordentlichem Dreieck hingelegt auf harten Felsgrund. Ab die Post, denke ich, weiterklettern bevor mich der Krummschnabel mit einer Taube verwechselt und in den Nacken hackt. Inzwischen trage ich Helm beim Klettern, man kann ja nie wissen.

Zwei Wochen später nochmals vor Ort. Inzwischen sind wir schon fast Freunde geworden mit dem geschützten König der Lüfte. Sein Nest kann man auch umklettern, stellen die Cracks des Teams fest, werfen dann doch einen schnellen Blick zu den Eiern, die der sorgende Vater- oder Muttervogel zwischendurch sorgfältig umbettet, so dass sie immer schön an der Sonne liegen, später dann, als es kühler wird, weiter hinten im warmen Grund. Auch Räuber können liebevoll sorgende Eltern sein. Hartnäckig ist er oder sie, scheint sich an die plumpen Kraxler gewöhnt zu haben, die sich da gelegentlich am Nest vorbeiquälen. Auch die Krähen und Elstern vor meinem Fenster fühlen sich im städtischen Getriebe offensichtlich wohl. Ein Wanderfalkenpaar nistete vor wenigen Jahren an einem Hochkamin im Zürcher Industriequartier, online beobachtet durch eine Webcam. Die laut Wikipedia «am weitesten verbreitete Vogelart der Welt» findet sich inzwischen an Hochhäusern und in Industrieanlagen, lässt sich offenbar von Menschen nicht mehr so leicht schrecken. Ein Klettergarten ist demgegenüber geradezu eine Idylle. Menschen fressen zwar auch Tiere, aber Raubvögel und ihre Eier doch eher nicht.

Was geschieht, wenn die Brut unseres Freundes, vielleicht ist es ja auch unsere Freundin, mal schlüpft, würde mich schon interessieren. Möglicherweise klebt vorher doch noch ein vogelschützender Kletterer einen Zettel unten an den Einstieg. Nächsten Frühling werden wir sehen, ob er wiederkommt, der gefiederte Räuber. Falls ihn nicht ein Taubenfreund inzwischen vergiftet hat.

Kletterliebe

Nicht jeder Haken dient der Sicherung. Es kann auch andere Gründe geben, einen zu bohren. Zum Beispiel Liebe.

Ohne_Haken

«Warum hängst du den Haken nicht ein?», ruft meine Kletterpartnerin herauf.

«Den hänge ich nie ein», gebe ich zurück. Und klettere weiter.

Irgendwann waren sie da, die zwei zusätzlichen Haken auf der Route. Wir alten Hasen ärgerten uns zuerst, unnötig fanden wir. Jemand sprach von Entfernen. Doch die zwei Haken blieben. Inzwischen hängt sie jeder und jede ein. Nur ich nicht. Offenbar brauche ich den Kick. Und dann ist da ja auch noch die Geschichte. Es ist eine Liebesgeschichte. Marco (Name geändert) hat die beiden Haken gebohrt. Er ist ein starker Kletterer und hatte sie gewiss nicht nötig. Doch da war seine neue Liebste, sie hatte ein bisschen Angst, die Route vorzusteigen. Wegen den zwei etwas weiten Hakenabständen. Was macht der echte Gentleman – die gibt’s ja auch unter Kletterern? Er greift zur Bohrmaschine, setzt zwei Bolts und fortan steigt seine Liebste auch diese Route vor. Wir haben die Geschichte vernommen, wir haben Verständnis, wir freuen uns sogar über das junge Glück. Zwei Haken, na ja, wir können damit leben. Andere kaufen Ringe, Rosen oder hängen ein Schlösslein an ein Brückengeländer in Paris oder Zürich. Zwei Bohrhaken, das ist doch ein origineller Liebesbeweis. Und wir können uns erst noch als Helden zur Schau stellen, die vorbeiklettern ohne sie einzuhängen.

Was haben wir doch alles schon für Liebesgeschichten erlebt in unserem Klettergarten! Schöne und tragische. Tränen gab es, Kopfschütteln – nein, die beiden, darf ja nicht wahr sein – Küsschen, Streit und Trennung und sportliches Glück im fortgeschrittenen Alter. Wie im richtigen Leben eben. Verweht, vergessen. Nur die zwei Haken sind geblieben. Nein, da ist noch was. Ein Spitzenkletterer hat zum fünfzigsten Geburtstag seiner Liebsten eine ganze Route eingerichtet und geschenkt. Auch das gibt es. Uns ist sie zu schwer – die so Geehrte schafft sie locker.

Übrigens würde auch Marcos Liebe die Route inzwischen auch ohne die zwei zusätzlichen Haken schaffen. Sie ist glückliche Mutter und starke Kletterin geworden. Jedes Mal ergreift es mich ein bisschen, wenn ich die Route klettere – ohne einzuhängen natürlich. Es gibt sie noch, die wahre Liebe. Auch am Fels.